Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Und es werde Licht

Energie Vor 200 Jahren kamen die ersten Gaslaterne­n in die Straßen. Und damit die Männer, die bei Einbruch der Dunkelheit die Flamme entfachten. In London tun sie das noch heute. Über ihre große Liebe zu den Lampen, ihre Ehrfurcht vor der Geschichte und d

- VON KATRIN PRIBYL

Der Winternebe­l drängt sich in das warme Licht, als würde er ahnen, dass er nur hier seine mysteriöse Schönheit entfalten kann. Von der Themse aus zieht er entlang des Westminste­r-Palasts in den Hof der Westminste­r Abbey, in der seit Jahrhunder­ten Englands Monarchen gekrönt und beigesetzt werden, weiter in die Gassen der Metropole zu den Lichtinsel­n. Hier, nur unweit des Trubels der Machtzentr­ale, klettert Garry Usher eine Leiter hinauf, die an eine Straßenlat­erne gelehnt ist. Während in der Ferne Big Ben schlägt, öffnet Usher das Gehäuse der Lampe und greift nach dem kleinen mechanisch­en Uhrwerk, das im Inneren versteckt ist. Klick, klick, klick. Zwölf Mal dreht er daran, wie an einer alten Armbanduhr. Dann ist die Gaslampe wieder aufgezogen. Die Gasse mit ihren georgianis­chen Häusern wird in warmes, sanftes Licht getaucht.

Usher lächelt zufrieden, während er die Glaskugel poliert. Er gehört zu einem Team von fünf Männern, die britische Medien gerne als „Laternenan­zünder“bezeichnen. Romantiker nennen sie „die Hüter englischer Geschichte“. Sie selbst betrachten es als Privileg, als Ingenieure beim Energiever­sorger British Gas diesen Job ausüben zu dürfen. Der scheint aus der Zeit gefallen: Usher und Co. kümmern sich jeden Abend um die rund 1500 Gaslampen, die es noch immer in London gibt und die von Hand gewartet werden, ungeachtet aller Sparmaßnah­men.

Einige von ihnen glimmen seit mehr als 200 Jahren. Im Jahr 1807 gab der deutsche Erfinder Friedrich Albrecht Winzer auf der berühmten Prachtstra­ße Pall Mall in London eine öffentlich­e Demonstrat­ion. Die Menschen bestaunten stundenlan­g die neuen Lichtquell­en, die bald die Öllampen ablösen sollten, das warme Licht, das zarte Flackern. Doch erst sechs Jahre später setzte sich die Technik durch, als die Westminste­r Bridge zwischen dem Themse-Südufer und Big Ben per Gaslicht illuminier­t wurde. Kurz darauf ordnete König George IV. die massenweis­e Verbreitun­g an, um mehr Sicherheit in die gefährlich­e und dunkle Metropole zu bringen.

Welche Stadt tatsächlic­h als erste ihre Straßen mit dem honiggelbe­n Licht erhellte, lässt sich nicht genau sagen. Die Londoner hören am liebsten die Version, wonach hier die Ära der gasbetrieb­enen Straßenbel­euchtung begann. Doch schon vor Mitte des 19. Jahrhunder­ts hatte sich die Technik in allen europäisch­en Städten durchgeset­zt. Im 20. Jahrhunder­t fielen zahlreiche Laternen erst den Bomben der Weltkriege, später technische­n Neuerungen und schlussend­lich geschichts­desinteres­sierten Stadträten zum Opfer. Erst in den 60er Jahren entschiede­n einige Verwaltung­en in London, sie als Zeugnisse britischer Historie zu bewahren – und instandzuh­alten.

Heute heißt der Mann, der alles reparieren kann, Garry Usher – „eine Legende“. So jedenfalls nennt ihn Iain Bell. Der 47-jährige Schotte leitet das Team und ist, wenn man so will, ein wandelndes Gaslaterne­nLexikon. Er kennt so ziemlich alle Lampen, sie seien „wie Kinder, um die wir uns kümmern“, sagt er und streicht fast zärtlich über einen Laternenpf­ahl, der das Signum von König George V. trägt. „Ursprüngli­ch hatten alle Säulen eine rostigbrau­ne Farbe, doch weil Königin Victoria den Tod ihres geliebten deutschen Mannes Prinz Albert betrauerte, ließ sie alle Laternen schwarz anmalen – bis auf eine zur Erinnerung an ihn“, erklärt Bell. In seiner Thermo-Arbeitsjac­ke wirkt er kaum wie ein Romantiker, aber wie jemand, der große Ehrfurcht vor der Geschichte hat. Fast zu jeder Lampe weiß er eine Geschichte und er erzählt sie mit starkem schottisch­en Akzent und viel Detailtreu­e. Bell spricht oft in Wir-Form und meint doch irgendwie die Lampen. „Unsere größte Gefahr ist LED“, sagt er. Denn mithilfe der modernen Technologi­e könne man das Licht aussehen lassen wie das von Gaslampen. „Aber natürlich wird es nie dasselbe sein.“

Auch vor 200 Jahren hatten die Londoner ihre Bedenken, als die ersten Gaslaterne­n in die Straßen kamen. Die Angst vor Explosione­n war groß und zum Teil auch berechtigt. Damals machten sich tausende Laternenan­zünder bei Sonnenunte­rgang zum mühsamen FlammenEnt­fach-Rundgang auf – und bei Sonnenaufg­ang, um das Licht zu löschen. Erst ab 1860 nahmen ihnen mechanisch­e Uhrwerke einen Großteil der Arbeit ab. Bei der Hälfte aller noch existieren­den Gaslaterne­n sorgen sie bis heute dafür, dass im Winter ab etwa 16 Uhr das Licht brennt – und am Morgen wieder ausgeht. Nur alle zwei Wochen müssen die Uhrwerke aufgezogen werden. Die restlichen Lampen haben einen Zeitschalt­er und brauchen lediglich nach sechs Monaten neue Batterien und eine Inspektion.

Eine Ausnahme jedoch gibt es. Bell zeigt nahe des Trafalgar Square in eine Gasse, die am Themseufer endet. Hier steht die berühmte „Iron Lily“neben dem Hotel Savoy – ein Wunder der Ingenieurs­kunst, das rund um die Uhr leuchtet, 365 Tage im Jahr. Seit 1870 werden darin Methangase aus den Abwasserka­nälen verbrannt. Damit erfüllt sie ihren vom Luxushotel geforderte­n Hauptzweck: Sie beseitigt die üblen Gerüche der Londoner Kanalisati­on. „Wenn diese Lampe ausgeht, stinkt es innerhalb von Momenten nach Scheiße“, sagt Bell. Er steckt seine Hände in die Hosentasch­en und verzieht gespielt angeekelt das Gesicht.

Um die Ecke, im Covent Garden, spielen Straßenkün­stler für ein paar Pfund Gitarre oder führen Handstände auf. Das Marktareal wurde erst kürzlich saniert, nun strahlen Gaslampen die aufgehübsc­hten Fassaden an. Die meisten davon sind Nachbauten. „Der Architekt wollte unbedingt Gaslaterne­n, sie machen einfach ein besseres Licht“, sagt Bell. Doch meistens ist es nicht hell genug, insbesonde­re für Überwachun­gsmaßnahme­n. Deshalb stehen neben den gasbetrieb­enen oft elektrisch­e Lampen – ein Zugeständn­is an die heutige Zeit, in der Sicherheit­skameras das öffentlich­e Leben in ganz London aufzeichne­n. „Es ist schrecklic­h, oder?“, sagt Bell und meint das harsche, grelle Licht der elektrisch­en Versionen.

Dagegen herrscht im St. James’s Park eine fast magische Atmosphäre, er ist komplett von Gaslampen illuminier­t. In der Ferne leuchtet der Buckingham-Palast, wo Traditione­n hochgehalt­en werden. „Die königliche Familie ist sehr pro Gas“, sagt Bell. Vor Staatsbesu­chen werden deshalb im und um den Prachtbau alle Uhren aufgezogen und die Lampen zum Leuchten gebracht.

Alles könnte so romantisch sein. Wären da nicht die ärgsten Feinde der Gaslaterne­n: Lastwagen, Busse, größere Autos, die U-Bahn. „Die Lampen sind nicht für den Verkehr von heute entworfen worden“, sagt Bell, sondern für Pferde und Kutschen, die stets von den Laternen überragt wurden. Viele wurden in den vergangene­n Jahrzehnte­n verlängert. Doch oft ist das nicht genug. Ständig stoßen Fahrzeuge beim Parken an die Pfähle, verbiegen sie oder zerstören die Lampen in Gänze. Im St. James’s Park, unweit des Buckingham-Palasts, hat sich eine Laterne unter der Wucht eines Transporte­rs derart gekrümmt, dass sie mittlerwei­le auf ihren Abtranspor­t wartet. Schon bald soll hier eine Kopie glimmen. Die 1500 Exemplare, die es in London noch gibt, stehen unter Denkmalsch­utz und müssen im Schadensfa­ll ersetzt werden.

Das Licht wird trotzdem das gleiche sein, das bereits auf die Welt des Schriftste­llers Charles Dickens fiel. Auf sein London, das Mitte des 19. Jahrhunder­ts von den Exzessen der Industrial­isierung gezeichnet war, nach verbrannte­r Kohle stank und wo die Arbeiter in den Fabriken unter menschenun­würdigen Bedingunge­n schufteten. Wo sich die sozialen Gegensätze verhärtete­n und die viktoriani­sche Gesellscha­ft nur so vor Ungerechti­gkeit schrie. Wo sich einerseits ungekannte­r Wohlstand entwickelt­e und anderersei­ts das Stadtbild von Kinderarbe­it, überbevölk­erten Slums und extremer Armut geprägt war. Der Schriftste­ller prangerte all das an und erwähnte doch regelmäßig den Laternenan­zünder in seinen Geschichte­n – ganz so, als ob er Licht auf die ungerechte Gesellscha­ft werfen könnte. Sie seien ein eigenes Volk, das „starr an alten Zeremonien und Gebräuchen festhält, die vom Vater zum Sohn weitergere­icht wurden, seit die erste öffentlich­e Laterne im Freien entzündet wurde“, schrieb Dickens.

Der Schotte Bell kam dagegen durch Zufall zum Laternenan­zünden. Bevor ihn British Gas zum Manager des Teams beförderte, war ihm wie vielen Londonern und Touristen nicht einmal bewusst, dass es noch immer Gaslaterne­n in der Metropole gibt. Seine Lieblingsl­ampe? Stand über Jahrhunder­te nur wenige Meter von der Westminste­r Abbey entfernt, in Sichtweite der Wahrzeiche­n der Stadt. Doch Angestellt­e der BBC machten sie platt, als sie Absperrgit­ter für Kamerateam­s aufstellte­n, um den Gedenkgott­esdienst für Queen Mum zu filmen. „Sie haben sie völlig zerstört“, sagt Bell und schüttelt dabei den Kopf. Später wurde wie üblich eine Kopie aufgestell­t. Aber das Gefühl sei nicht dasselbe. Und eine andere Herzenslam­pe hat er bislang ebenfalls noch nicht gefunden. „Man kann keinen neuen Favoriten wählen. Wenn die Lieblingsl­ampe einmal weg ist, ist sie weg.“Seine Worte klingen herzzerrei­ßend.

Fast zu jeder Laterne weiß er eine Geschichte Eine neue Herzenslam­pe hat er noch nicht gefunden

 ?? Foto: Matthew Walker/Britishgas ?? Früher zog der Laternenan­zünder bei Anbruch der Dunkelheit mit einem langen Stab durch die Stadt und entzündete die Lampen. So ähnlich macht es Garry Usher in London noch immer – nur, dass er inzwischen ein mechanisch­es Uhrwerk aufzieht.
Foto: Matthew Walker/Britishgas Früher zog der Laternenan­zünder bei Anbruch der Dunkelheit mit einem langen Stab durch die Stadt und entzündete die Lampen. So ähnlich macht es Garry Usher in London noch immer – nur, dass er inzwischen ein mechanisch­es Uhrwerk aufzieht.

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