Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Autopilot
Porträt Skispringer Andreas Wellinger fliegt bei der WM von Medaille zu Medaille. Im Teamwettbewerb könnte er heute mit 21 Jahren schon Historisches schaffen
Endlich mal abschalten. Endlich mal raus aus dem Teamhotel in Vierumäki vor den Toren Lahtis und nicht in den Shuttlebus zur Schanze steigen. Das war Andreas Wellinger wichtig. Der 21-jährige Ruhpoldinger versicherte glaubhaft, dass die Tage bei der Nordischen Ski-WM für Kopf und Körper alles andere als geruhsam sind. Umso mehr habe er den Dienstag genossen, an dem die deutschen Skispringer das Training schwänzten und stattdessen mit Skidoos durch finnische Wälder heizten.
Dieser Ausritt auf dem Motorschlitten sei „verdammt gut und verdammt wichtig“gewesen: In der deutschen Mannschaft würde gerade eine super Stimmung herrschen, der Spaß stehe im Vordergrund und er selbst habe die Ausfahrt über Schnee und Eis vor allem dazu genutzt, sein Hirnstüberl durchzulüften. Drei Einsätze hatte Wellinger bei dieser WM schon. Und dreimal stand er auf dem Treppchen. Am Samstag vor einer Woche hatte er Silber von der kleinen Schanze geholt, einen Tag später mit dem Mixedteam sogar Gold gewonnen und am Donnerstagabend mit Silber von der Großschanze noch einmal nachgelegt.
„Was hier passiert, ist der Wahnsinn“, zeigt sich der Oberbayer selbst überrascht von seiner Erfolgsserie. Wellingers Glück ist es derzeit, dass er nicht viel tun, geschweige denn ändern muss, um seine besten Sprünge abzurufen. „Sie funktionieren einfach“, sagt Autopilot Wellinger und grinst verschmitzt. Wellingers Pech dagegen ist es, dass er derzeit einen vor der Nase hat, der noch perfekter, noch lockerer fliegt – und minimal sauberer landet: Stefan Kraft, der Österreicher. Seit Wochen liefern sich Wellinger und Kraft ein Duell der Superlative. Ihre Wohnorte Weißbach bei Bad Reichenhall und Bischofshofen im Salzburger Land liegen 70 Kilometer auseinander, in den Ergebnislisten aber trennen die beiden oft nur Zentimeter – beim Einzelspringen am Donnerstag sollen es gerade einmal 72 gewesen sein, wenn man Wind und Haltungsnoten mit einrechnet. „Ich werde mich sicher nicht über Silber beschweren“, sagt Wellinger und blickt stattdessen auf den Teamwettbewerb am heutigen Samstag (ab 16.15 Uhr) voraus. Der Medaillensammler will seinen Höhenflug fortsetzen: „Wir werden noch mal voll angreifen“, sagte er kämpferisch, will die Sache aber mit seiner gewohnten Lockerheit angehen. „Verkrampfen dürfen wir nicht.“
Seine jugendliche Unbekümmertheit könnte ihn in die Geschichtsbücher bringen. Erster doppelter Vizeweltmeister ist er bereits, mit einer weiteren Medaille könnte er mit Martin Schmitt gleichziehen, der als bislang einziger DSV-Springer viermal Edelmetall bei einer Weltmeisterschaft holte – ebenfalls im finnischen Lahti – 2001. Wie hatte Bundestrainer Werner Schuster schon vor vier Jahren gesagt: „Dieser Kerl hat das Zeug zum Popstar.“
Thomas Weiß