Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Hier begegnet man der Reformation auf Schritt und Tritt
Kirchenserie St. Anna zu Augsburg ist ein festlich-fröhliches Rokokojuwel. Und trotzdem ein evangelisches Gotteshaus voller Geschichte
Zuerst sind Besucher, zumal katholische, überrascht: Dieses Rokokojuwel soll eine evangelische Kirche sein? St. Anna ist sogar die Keimzelle der Reformation in Augsburg. Im dortigen Karmeliterkloster kam im Herbst 1518 Martin Luther unter, als ihn der römische Legat Cajetan vom 13. bis 15. Oktober unter Ketzerverdacht verhörte. Als ihm die Verhaftung drohte, floh Luther Hals über Kopf am 20. Oktober aus der Stadt. Klosterprior Johannes Frosch predigte dann seit 1523 nach der neuen Lehre.
Zum Leidwesen der Fugger, hatte doch Jakob der Reiche St. Anna als Grablege der Familie erkoren 1509 eine Kapelle im neuesten Schick der italienischen Renaissance anbauen lassen. Ein Prachtraum mit viel Marmor und einem zauberhaften Rosettengewölbe. An der Rückwand prangt eine mächtig ausladende Orgel, ihre beiden bemalten Flügel sind noch original; der Maler Jörg Breu hat zu den Aposteln sogar Jakob Fugger unter die Zuschauer der Himmelfahrt Christi eingereiht. Die Fugger dürfen in St. Anna bis heute katholische Messen feiern.
Überall sonst ist die ehemals gotische, dann 1747/48 festlich barockisierte Kirche ein typisches, evangelisches Gotteshaus. Zentral liegt die warm strahlende Kanzel aus edlem Nussbaumholz. Auf ihrem Schalldeckel bläst ein goldener Friedensengel die Posaune mit Palmzweig. Für alle Zeit erinnert er an den Frieden nach dem schrecklichen Dreißigjährigen Krieg, als die Evangelischen in Augsburg 1648 endlich wieder ihre Kirchen zurück und volle Gleichbe- rechtigung, genannt Parität, in der Stadtgesellschaft erhielten. Im Jahr 1999 wurde in Sichtweite der Kanzel das erste Einigungsdokument zwischen Lutherischem Weltbund und Vatikan unterzeichnet.
Die Predigt des göttlichen Worts, der himmlische Lobpreis in der auf hohem künstlerischen Niveau gepflegten Musik und die heilige Feier des Abendmahls gehen in St. Anna einen harmonischen Dreiklang ein. Der Altar gehört zu den jüngsten Kunstwerken: ein Block in Kreuzform, mit purpurrotem Wachs überzogen. Seine Aufstellung krönte 2013 die langwierige Sanierung der Kirche, die neben der Festigung von Dach und Gewölbe, die immer noch Spuren der Kriegschäden zeigten, auch eine frische, festlich-fröhliche Atmosphäre in St. Anna schuf.
Der letzte Bauabschnitt galt der Goldschmiedekapelle, die mit ihren wieder aufgehellten gotischen Wandmalereien eine ganz eigenund tümliche Stimmung entfaltet. Der Passionszyklus und die Heiligen Drei Könige wurden gemalt, als die Kramersleute Konrad und Afra Hirn um 1420 die Grabkapelle stifteten. Die Goldschmiedezunft fügte 1485 das Jüngste Gericht und die Kreuzigung hinzu. Die Kapelle ist ein beliebter Schauplatz für Kammerkonzerte, während in der hervorragenden Akustik des großen Kirchensaales der Madrigalchor bei St. Anna Kantaten, Oratorien und Passionen ergreifend hören lässt. Oft geht dabei der Blick hinauf ins Deckengewölbe mit den drei Fresken von Johann Georg Bergmiller, dem (katholischen!) Direktor der reichsstädtischen Kunstakademie.
Stadtdekanin Susanne Kasch liebt ihre facettenreiche Kirche. „Von ihren Anfängen im 13. Jahrhundert an bis heute hat diese Kirche eine Wachstumsgeschichte hinter sich“, sagt Kasch. Jede Stilrichtung von der Gotik bis zum Klassizismus sei in ihr zu finden, „aber auch die großen geistigen und geistlichen Auseinandersetzungen der Jahrhunderte prägen sie“. Deshalb hängt zum Beispiel ein Bild des Schwedenkönigs Gustav Adolf in der Kirche; der hatte 1632 die ein Jahr zuvor katholisch besetzte St.-Anna-Kirche für kurze Zeit wieder der evangelischen Seite zurückgewonnen. Martin Luther nach Lucas Cranach darf natürlich als Porträt nicht fehlen.
Überhaupt die großformatigen Tafelbilder, die vor allem im Ostchor hängen: Sie bilden ein biblisches Lesebuch für sich. Zum Beispiel das figurenreiche erzählerische Motiv „Christus segnet die Kinder“. Oder Jörg Breus dramatische Komposition „Christus in der Vorhölle“. Die Stadtdekanin nennt die Bilder „eine Schule des Glaubens“. Darin schließt sie Motive im stimmungsvollen Kreuzgang von St. Anna mit ein. Einflussreiche Patrizierfamilien ließen sich hier bestatten, wovon die mitunter pompösen Grabmäler zeugen. Grusliges kann einem hier begegnen wie grässliche höllische Wesen und Schädel, woraus Schlangen züngeln, aber auch Engel und sogar ein weißes Mäuschen.
Eine Gänsehaut könnte man auch bekommen, wenn man die Lutherstiege erklimmt. Aus einer geöffneten historischen Geldtruhe raunt eine dunkle Stimme: „Du bist ein Sünder!“Unmittelbar erwacht hier das religiöse Flair des Spätmittelalters, als die Menschen geradezu erlösungssüchtig waren und ihr ewiges Heil im Erwerb eines Ablassbriefes suchten. Dies ist die Situation, in der Martin Luther 1517 seine 95 Thesen schrieb und darin einen ganz neuen Weg in die innere Freiheit aufzeigte. Authentischer als auf der Lutherstiege in St. Anna kann man in Augsburg, das reich an reformationsgeschichtlichen Schauplätzen ist, der Reformation nicht begegnen. Völlig gratis übrigens.