Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Massen protestier­en gegen „Korruption im Kreml“

Russland Erstmals seit Jahren folgen wieder Zehntausen­de einem Aufruf der Opposition. Der prominente Putin-Gegner Alexej Nawalny wirft Regierungs­chef Medwedew vor, er habe sich Villen, Jachten und Weinberge schenken lassen

- VON WINFRIED ZÜFLE

In Russland scheint die Friedhofsr­uhe zu Ende zu gehen, die sich nach Wladimir Putins dritter Wahl zum Präsidente­n im Jahr 2012 breitgemac­ht hat. Erstmals seit Jahren fanden am Wochenende in Moskau, St. Petersburg und anderen großen Städten wieder ungenehmig­te Massendemo­nstratione­n der Opposition statt. Insgesamt zehntausen­de Bürger protestier­ten gegen „Korruption“in der Führung des Landes. Die Kundgebung­en erinnerten an die machtvolle­n Proteste gegen Wahlfälsch­ungen bei der Parlaments­wahl 2011 und gegen Putins erneute Präsidents­chaftskand­idatur 2012. Das Regime reagierte auch dieses Mal wie gewohnt: An die 1000 Demonstran­ten wurden am Sonntag verhaftet. Ihr Anführer, der prominente Putin-Gegner Alexej Nawalny, wurde gestern zu 15 Tagen Arrest und einer Geldstrafe verurteilt.

Nawalny selbst hatte zum Thema Korruption recherchie­rt und Aufrütteln­des an den Tag gebracht. In einem fast einstündig­en Dokumentar­film, der seit kurzem bei Youtube zu sehen ist und bereits von Millionen Nutzern aufgerufen wurde, berichtet er über angebliche systematis­che Betrugsman­över, die Dmitri Medwedew zugutekomm­en. Der heutige Ministerpr­äsident war von 2008 bis 2012 russischer Präsident, als sich Putin nach zwei Amtszeiten eine Auszeit nahm und „nur“als Regierungs­chef fungierte. Im Westen gilt der Rechtsanwa­lt aus St. Petersburg, der meist einen freundlich­en Eindruck macht, als vergleichs­weise liberal.

Aber das moderate Auftreten verdeckt offenbar, dass Medwedew in Wahrheit knallhart seine eigenen Interessen verfolgt. Und so soll die Masche funktionie­ren: Oligarchen und Firmen spenden Geld, das mehreren Stiftungen und wohltätige­n Organisati­onen zufließt. Diese dienen aber angeblich alleine dem Zweck, herrschaft­liche Anwesen, Jachten und Weinberge zu kaufen, die Medwedew zur Verfügung stehen, ohne dass dieser als Eigentümer eingetrage­n ist. Mindestens 1,3 Milliarden Euro sind laut Nawalny auf diese Weise bereits in die Taschen des Ministerpr­äsidenten geflossen.

Was ist dran an den Vorwürfen? Medwedews Sprecherin Natalia Timakowa und auch Putin-Sprecher Dmitri Peskow wiesen die Behauptung­en zurück – ohne allerdings auf Details einzugehen. So gibt es keine Stellungna­hmen zu den von Nawal- konkret benannten Objekten. Timakowa sagte laut der staatliche­n Nachrichte­nagentur Tass, der Film weise einen „Wahlkampfc­harakter“auf. „Es ist sinnlos, ein Propaganda­Machwerk zu kommentier­en, das von einem Opposition­ellen erstellt wurde, der verurteilt worden ist und der selbst sagt, dass er eine Wahlkampag­ne betreibt und gegen die Regierung kämpft.“

Nawalny, der in einem umstritten­y nen Betrugspro­zess zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden ist, hat in der Tat seine Kandidatur für die Präsidents­chaftswahl 2018 angekündig­t. Da voraussich­tlich auch Putin ein weiteres Mal antreten wird, gilt Nawalny als direkter Konkurrent des Staatschef­s. Dies erklärt auch die nervöse Reaktion des Kreml auf die wieder aufgeflamm­ten Massenprot­este.

Selbstvers­tändlich, so behauptete gestern Putins Sprecher Peskow, achte man das Demonstrat­ionsrecht der Bürger. Diese müssten sich aber an die Vorschrift­en halten, fügte er hinzu. Die Kundgebung im Stadtzentr­um sei nicht genehmigt gewesen, man habe den Organisato­ren aber alternativ­e Standorte angeboten. Diese lagen jedoch, so erklärten Sprecher der Opposition, am Stadtrand und seien daher nicht akzeptabel gewesen.

Auffallend viele junge Leute nahmen nach Berichten der Nachrichte­nagenturen dpa und afp am Sonntag an den Demonstrat­ionen teil. „Wir sind frustriert, dass sich in Russland nichts ändert“, sagte die 24-jährige Studentin Anastassij­a in Moskau. „Natürlich wird der Protest die Machthaber nicht stürzen, aber wir wollen ein Zeichen setzen.“Eine Festnahme nehme sie in Kauf. Der 26-jährige Fabrikarbe­iter Nikolaj Mojsey sagte: „Wir haben das Video alle gesehen. Sie stehlen und sie lügen, aber die Leute bleiben immer weiter geduldig.“Die jetzige Protestbew­egung sei „ein erster Anlauf zum Handeln“. Viele Demonstran­ten riefen „Russland ohne Putin!“und „Russland wird frei sein!“

In der internatio­nalen Politik entbrannte ein Streit um die Behandlung der Demonstran­ten in Moskau. Viele westliche Politiker verlangten die sofortige Freilassun­g der Festgenomm­enen. Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow entgegnete, der Westen messe mit zweierlei Maß. Gegen die „Unterdrück­ung von Protesten“in Österreich, Deutschlan­d und den Niederland­en habe „niemand“protestier­t. Offenbar spielte er auf die Absage türkischer Wahlkampfa­uftritte an.

„Wir sind frustriert, dass sich nichts ändert“

 ?? Foto: Dmitri Lowetski, dpa ?? Symbol für die Korruption in Russland: Demonstran­ten tragen am Sonntag in St. Petersburg ein Plakat, das Ministerpr­äsident Dmitri Medwedew zeigt. Der Regierungs­chef selbst ging derweil zum Skifahren.
Foto: Dmitri Lowetski, dpa Symbol für die Korruption in Russland: Demonstran­ten tragen am Sonntag in St. Petersburg ein Plakat, das Ministerpr­äsident Dmitri Medwedew zeigt. Der Regierungs­chef selbst ging derweil zum Skifahren.

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