Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Begründete Ängste hier, neue Notwendigkeiten da
eine junge Mutter „stinkewütend“. Diese moralisierende Bevormundung! Als hätte in der heutigen Zeit mit flexibilisierter Arbeitswelt jeder die Möglichkeit, das Smartphone wegzulassen, als wäre genau dies das Wichtigste. So äußerte sie sich dazu im Blog, und eine hitzige FacebookDebatte begann. Den Inhalt kann sich eigentlich jeder vorstellen. Es prallten Fronten aufeinander, die die ganze Gesellschaft durchziehen.
Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung, ihre Gefahren und die Fragen nach ihrem sinnvollen Umgang entzünden sich nirgends stärker als an den Erziehungsfragen. Die Eltern in ihrer Vorbildfunktion sind dafür die Projektionsfläche: Verlieren wir durch die ständige Vernetzung nicht den Blick fürs Unmittelbare und Wesentliche? Darf die digitale Kommunikation unseren Alltag und unser Privatleben so stark prägen und durchsetzen? Wann und ab wann ist ein Handy sinnvoll? Wie viel Medienzeit ist für welches Alter angebracht? Geht uns nicht inmitten der ständigen virtuellen Präsenz der Sinn für die Wirklichkeit verloren? Und was macht diese Sphäre der immer nur einen Klick entfernten, scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten mit unserem Bild von uns selbst? Schließlich: Gilt es, Gefahren durch rigorose Grenzziehung zu vermeiden oder sie im freien Umgang zu erkennen? Denn dass es diese Gefahren weltweit gibt, also Cybermobbing und politische Radikalismen, frei verfügbare Pornografie, Handy-Abhängigkeit und Datendiebstahl, das bestreitet ja kaum einer.
Aber an dieser Front scheint ein uralter Konflikt verschärft wieder auf. Da plädierte auf der einen Seite etwa der dänische Familientherapeut Jesper Juul für einen demokratisch-partnerschaftlichen Ansatz in der Erziehung, bei dem Kindern mit Respekt zu begegnen sei. Und auf der anderen Seite wetterte der schwedische Psychiater David Eberhard bestsellertauglich über „Kinder an der Macht“und forder- te, Grenzen zu setzen und von Kindern vielmehr Respekt einzufordern. Aktuell flankiert wird er von dem Lehrer Axel Becker und dessen Buch „Toleranzfalle. Was grenzenlose Liberalität uns und unseren Kindern antut“. Becker lastet die Ungezogenheit der neuen Generation den 68ern und ihrer antiautoritären Erziehung an, die zu einer sozialen Verwahrlosung geführt habe.
Der Druck auf die Fronten hat sich immens erhöht. Vor allem, weil die Kinder und ihre Eltern zu einer zentralen Zielgruppe der Konsumgesellschaft geworden sind. Das beginnt bei einer schwindelerregenden Angebotsliste von Dienstleistern für einen Kindergeburtstag – und zieht sich hin bis zu den digitalen Märkten mit Spielen und Netzwerken. Denn die sollen sich ja möglichst so verbreiten, dass, wer nicht dabei ist, den Eindruck hat, außen vor zu sein. Könnt und wollt ihr das euren geliebten Kindern antun, liebe Eltern? Wo ihr selbst durch höhere Arbeitsund Freizeitanforderungen doch vielleicht selbst das Gefühl habt, eure Rolle nicht perfekt ausfüllen zu können? Aber brauchen wir und unsere Kinder nicht die Kundigkeit in den neuen Instrumenten, um für die Zukunft gerüstet zu sein, die ja ohnehin gerade in Sachen digital sich wandelnder Arbeit unsicher genug zu sein scheint?
Als Abbild dieser Fronten sowie Ecarius („Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens“erscheint demnächst bei Springer VS). Dafür wurden 5520 Jugendliche befragt. Ecarius’ Erkenntnis: „Groß werden heißt heute, sich im Dschungel der Möglichkeiten zurechtfinden“, einen eigenen Weg zu finden. Ihr Befund: Erziehung funktioniert heute, da ja auch die Eltern noch mit den Fragen nach der eigenen Identität beschäftigt sind, längst viel mehr durch Gespräche als durch bloße Autorität. Das mache Erziehung zwar aufwendiger, aber auch fruchtbarer, das schule die soziale Kompetenz und die Eigenverantwortung. Ihr Studien-Ergebnis, dass sie selbst überrascht habe: Eltern heute machten im Grunde ihre Sache ziemlich gut. Das hat freilich auch mit Grenzen zu tun, die Eltern nicht zuletzt für sich selbst ziehen müssen. Aber wenn das Abschirmen gegenüber neuen Unsicherheiten ohnehin nur noch als Weltflucht möglich wäre, dann gilt ein altes Wort der Erziehung umso mehr: Die Ängste der Eltern dürfen nicht zu den Grenzen der Kinder werden. Und Kinder können Sorgen und Probleme verstehen lernen. In gegenseitigem Vertrauen entwickeln beide am besten den sinnvollen Umgang mit neuen Möglichkeiten.