Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wer hinter Gittern zu Gott findet
Einblick Sind Häftlinge frommer als Menschen, die in Freiheit leben? Das wissen Gefängnisseelsorger am besten. Einer von ihnen ist Michael Barnt. Er skizziert Begegnungen in der JVA Gablingen
Gablingen Wer in Bayerns ausbruchsicherstem Gefängnis sitzt und die meiste Zeit des Tages mit sich selbst beschäftigt ist, kommt irgendwann unweigerlich ins Grübeln. Finden Häftlinge dabei zurück zum Glauben? „Ja, ich glaube schon, dass sich in so einer existenziellen Situation viele wieder an Gott erinnern“, sagt Michael Barnt. Er muss es wissen. Er ist einer der Seelsorger, die sich um die Häftlinge hinter den hohen Mauern kümmern. Der katholische Pastoralreferent und seine Kollegen sind wichtige Ansprechpartner und Anlaufstation für die Gefangenen. Sie schenken den Männern ein Ohr, wenn es um persönliche Probleme, die Familie oder auch Ängste geht. Die Geistlichen können die Häftlinge mit ihrer Geschichte wieder versöhnen. Und sie können neue Wege aufzeigen – einer davon führt zum Gottesdienst im Mehrzweckraum der Anstalt.
Fast jeder Vierte komme am Wochenende dorthin, sagt Barnt. Bei den Untersuchungsgefangenen sei es fast jeder Dritte. Das hat noch einen anderen Grund. Untersuchungshäftlinge seien nicht von Natur aus besonders fromm, sondern froh um eine Stunde, in der sie ihre Neun-Quadratmeter-Zell verlassen können, erklärt Barnt. Im Gottesdienst erfahren sie dann auch Trost und Zuspruch für ihr Leben. Diesen erhalten sie auch in Einzelgesprächen – sie gehören zu den Hauptaufgaben der Seelsorger. Wie ein Arbeitstag in der JVA aussieht, hat Michael Barnt skizziert.
● 8.30 Uhr Barnt holt Schwester Irmtraud von der Kongregation Maria Ward ab und nimmt sie mit nach Gablingen. Nach dem Umzug von der Karmelitergasse in den Norden von Augsburg ist ihr Weg länger geworden. Deshalb wollte sie aufhören. Barnt: „Viele Gefangene würden sie dann vermissen. Bis jetzt gibt es noch viel zu wenig ehrenamtliche Besucher.“
● 9 Uhr Im Büro wartet ein Stapel Antragsscheine auf Barnt. So heißen die Formulare, die Gefangene ausfüllen müssen, wenn sie einen Geistlichen sprechen möchten. Doch bevor sich Michael Barnt auf den Weg zu den Gefangenen macht, kontrolliert er am Computer seine E-Mails. Eine dringende Bitte eines Vollzugsbeamten ist dabei: Er hat erfahren, dass bei einem Gefangenen ein Suizidversuch möglich ist. Eine Psychologin hat den Mann bereits aufgesucht. Jetzt soll noch der Seelsorger mit ihm sprechen.
● 10 Uhr Das Telefon klingelt. Eine Frau klagt ihr Leid: Ihr Enkel sei schon wieder im Gefängnis. Die Frau macht sich Sorgen. Barnt soll bei ihm vorbeischauen. „Jetzt heißt es planen, wie und wann wer besucht werden kann“, sagt Barnt.
● 11 Uhr Die Besuchszeit endet, das Mittagessen wird ausgegeben. Michael Barnt holt Schwester Irmtraud ab und bringt sie zurück.
● 12 Uhr Nach dem Mittagessen spricht Barnt mit seinem evangelischen Kollegen. Es geht um Organisatorisches, Anfragen von Häftlingen und Neuigkeiten. Danach führt Barnts Weg in die Hafthäuser. Er muss beachten, wann und wo Hofgang ist – denn während dieser Zeit kann der Seelsorger niemanden erreichen.
Am Nachmittag besucht Barnt einen Untersuchungshäftling. Er war ein Jahr hinter Gittern. Jetzt wird er entlassen. Aber was erwartet ihn in Freiheit? Der Mann vertraut Barnt an, dass er ein wenig Angst vor der Zukunft hat. Freunde hat er nicht mehr. Außerdem muss er plötzlich wieder im normalen Alltag Fuß fassen. Barnt gibt ihm seinen Segen mit auf den Weg.
Zurück im Büro. Das Telefon klingelt. Eine Frau möchte ihrem Mann in der JVA mitteilen, dass ihr gemeinsames Baby gesund ist. Er sitzt zwei Monate ein, erst kurz der Geburt kommt er wieder raus. Ob er nach seiner Entlassung in Deutschland bleiben kann, ist unklar. Barnt notiert sich die Liebesgrüße.
Wieder im Hafthaus. Barnt sucht einen Gefangenen auf, der einen anderen Seelsorger sprechen wollte. Doch der hat Urlaub. Barnt schaut nach dem Rechten. Er kommt aber zu spät: Es ist Aufschluss. Das heißt: Für etwa 20 Gefangene sind für zwei Stunden die Zellentüren geöffnet. Sie haben damit die Möglichkeit, sich im Freizeitraum oder in ihren Zellen zu treffen. Das bedeutet gleichzeitig, dass niemand anders Zutritt hat. Barnt geht zum nächsten Hafthaus. Auch dort will ein Häftling einen Seelsorger sprechen. Doch der wurde zwischenzeitlich in ein anderes Gebäude verlegt. Vom Stationsbeamten erfährt Barnt, dass es noch einen Gefangenen gibt, der Hilfe braucht. Er muss eine höhere Strafe absitzen, als er ursprünglich erwartet hat. Der Beamte hat Angst, dass sich der Mann deshalb etwas antun könnte.
● 18 Uhr Barnt schaut sich in seinem Büro noch unbeantwortete E-Mails an. Dann macht er sich Gedanken über den nächsten Bibelkreis. Er sortiert außerdem die Antragsscheine für den nächsten Tag – für viele Häftlinge die Möglichkeit zur gedanklichen Flucht aus dem Gefängnis der Einsamkeit.