Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die große und die kleine Merkel
Konjunktur Die Industrie ist in Frühjahrsstimmung und rechnet mit 500000 neuen Jobs. Das erlebt auch die Kanzlerin auf der Hannover Messe. Es darf nur nichts dazwischenkommen
Manchmal kann sich die Bundeskanzlerin einen Scherz nicht verkneifen. Die Hannover Messe – die größte Industrieschau der Welt – fand 1947 kurz nach dem Krieg zum ersten Mal statt und feiert heuer ihren 70. Geburtstag. Die Messe sei stets ein Schaufenster des Fortschritts gewesen – schon im Gründungsjahr, sagte Merkel zur Eröffnung und fügte amüsiert an: „Es gab Klappräder für Kinder, Zahnprothesen für Ältere und den VW-Käfer für alle.“Inzwischen haben sich die Themen geändert. Die Kanzlerin und ihre polnische Amtskollegin Beata Szydlo erlebten auf ihrem Rundgang Techniken der Zukunft. Merkel bekam am Siemens-Stand ein kleines Abbild ihrer eigenen Person aus dem 3-D-Drucker überreicht, sie sah, wie Menschen heute mit Robotern Hand in Hand arbeiten, warum moderne Roboter-Greifer wie ein Elefantenrüssel aussehen und wie sich Kuka die Fabrik der Zukunft vorstellt. VW stellte einen Elektro-Lieferwagen vor, die polnische Firma Ursus gleich einen Elektro-Bus. Die Wirtschaft zeigt sich in Hannover zuversichtlich.
Die Industrie rechnet dieses Jahr mit einem Wachstum von 1,5 Prozent und 500000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in Deutschland. Das sagte am ersten Messetag Dieter Kempf, der neue Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Auch die einzelnen Branchen wie der Maschinenbau und die Elektroindustrie gehen von Wachstum aus. Der deutsche Maschinenbau mit rund einer Million Beschäftigten rechnet mit einem Plus von einem Prozent, die Elektro-Branche mit ihren 847000 Mitarbeitern mit 1,5 Prozent. Doch der Aufschwung steht aus Sicht von Industrie-Chef Kempf auf wackeligen Beinen: „Die Frage bleibt, ob er robust genug ist, um den vielfältigen Risiken zu trotzen, die unsere Exportnation bedrohen.“In Hannover herrscht auch viel Unsicherheit. Mehr als sonst wird über Politik gesprochen.
Die Angst vor dem Zerfall Europas geht um. Den Sieg des europafreundlichen Kandidaten Emmanuel Macron in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl nahm man da erleichtert zur Kenntnis. Nun könne man „etwas befreiter durchatmen“, sagte Kempf. Ein Wahlsieg der Europa-Kritikerin Marine Le Pen vom Front National ist hier die Horrorvorstellung. „Wenn die Franzosen die EU verlassen, dann bricht die Union zu- sammen“, warnte Carl Martin Welcker, Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA. Er befürchtet „Wohlstandsverluste für alle Europäer“. Durch den Brexit gehe mit Großbritannien bereits das viertwichtigste Exportland für den Maschinenbau als EU-Partner verloren. „Dies darf nicht der Anfang weiterer Austritte oder gar des Auseinanderbrechens der EU sein.“
Mit Sorge beobachtet die Industrie auch die Drohung der USA mit Strafzöllen und Handelsschranken. Die Wirtschaftsvertreter wollen lieber mehr Freihandel. Nach dem Scheitern von TTIP fordern sie in mittlerer Zukunft sogar einen neuen Anlauf für ein Handelsabkommen mit den USA. „Die Gründe für ein transatlantisches Handelsabkommen bleiben gültig“, sagte Industrie-Chef Kempf.
Daneben macht der Bundestagswahlkampf die Wirtschaft nervös. Sie fürchtet, dass teure Wahlgeschenke verteilt und die Agenda2010-Reformen zurückgedreht werden. Parteien aller Couleur sollten daran denken, dass Geld „erst erwirtschaftet werden muss, bevor man es ausgibt“, sagte Kempf. Um