Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die große und die kleine Merkel

Konjunktur Die Industrie ist in Frühjahrss­timmung und rechnet mit 500000 neuen Jobs. Das erlebt auch die Kanzlerin auf der Hannover Messe. Es darf nur nichts dazwischen­kommen

- VON MICHAEL KERLER

Manchmal kann sich die Bundeskanz­lerin einen Scherz nicht verkneifen. Die Hannover Messe – die größte Industries­chau der Welt – fand 1947 kurz nach dem Krieg zum ersten Mal statt und feiert heuer ihren 70. Geburtstag. Die Messe sei stets ein Schaufenst­er des Fortschrit­ts gewesen – schon im Gründungsj­ahr, sagte Merkel zur Eröffnung und fügte amüsiert an: „Es gab Klappräder für Kinder, Zahnprothe­sen für Ältere und den VW-Käfer für alle.“Inzwischen haben sich die Themen geändert. Die Kanzlerin und ihre polnische Amtskolleg­in Beata Szydlo erlebten auf ihrem Rundgang Techniken der Zukunft. Merkel bekam am Siemens-Stand ein kleines Abbild ihrer eigenen Person aus dem 3-D-Drucker überreicht, sie sah, wie Menschen heute mit Robotern Hand in Hand arbeiten, warum moderne Roboter-Greifer wie ein Elefantenr­üssel aussehen und wie sich Kuka die Fabrik der Zukunft vorstellt. VW stellte einen Elektro-Lieferwage­n vor, die polnische Firma Ursus gleich einen Elektro-Bus. Die Wirtschaft zeigt sich in Hannover zuversicht­lich.

Die Industrie rechnet dieses Jahr mit einem Wachstum von 1,5 Prozent und 500000 zusätzlich­en Arbeitsplä­tzen in Deutschlan­d. Das sagte am ersten Messetag Dieter Kempf, der neue Präsident des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie. Auch die einzelnen Branchen wie der Maschinenb­au und die Elektroind­ustrie gehen von Wachstum aus. Der deutsche Maschinenb­au mit rund einer Million Beschäftig­ten rechnet mit einem Plus von einem Prozent, die Elektro-Branche mit ihren 847000 Mitarbeite­rn mit 1,5 Prozent. Doch der Aufschwung steht aus Sicht von Industrie-Chef Kempf auf wackeligen Beinen: „Die Frage bleibt, ob er robust genug ist, um den vielfältig­en Risiken zu trotzen, die unsere Exportnati­on bedrohen.“In Hannover herrscht auch viel Unsicherhe­it. Mehr als sonst wird über Politik gesprochen.

Die Angst vor dem Zerfall Europas geht um. Den Sieg des europafreu­ndlichen Kandidaten Emmanuel Macron in der ersten Runde der französisc­hen Präsidents­chaftswahl nahm man da erleichter­t zur Kenntnis. Nun könne man „etwas befreiter durchatmen“, sagte Kempf. Ein Wahlsieg der Europa-Kritikerin Marine Le Pen vom Front National ist hier die Horrorvors­tellung. „Wenn die Franzosen die EU verlassen, dann bricht die Union zu- sammen“, warnte Carl Martin Welcker, Präsident des Maschinenb­auverbande­s VDMA. Er befürchtet „Wohlstands­verluste für alle Europäer“. Durch den Brexit gehe mit Großbritan­nien bereits das viertwicht­igste Exportland für den Maschinenb­au als EU-Partner verloren. „Dies darf nicht der Anfang weiterer Austritte oder gar des Auseinande­rbrechens der EU sein.“

Mit Sorge beobachtet die Industrie auch die Drohung der USA mit Strafzölle­n und Handelssch­ranken. Die Wirtschaft­svertreter wollen lieber mehr Freihandel. Nach dem Scheitern von TTIP fordern sie in mittlerer Zukunft sogar einen neuen Anlauf für ein Handelsabk­ommen mit den USA. „Die Gründe für ein transatlan­tisches Handelsabk­ommen bleiben gültig“, sagte Industrie-Chef Kempf.

Daneben macht der Bundestags­wahlkampf die Wirtschaft nervös. Sie fürchtet, dass teure Wahlgesche­nke verteilt und die Agenda2010-Reformen zurückgedr­eht werden. Parteien aller Couleur sollten daran denken, dass Geld „erst erwirtscha­ftet werden muss, bevor man es ausgibt“, sagte Kempf. Um

Newspapers in German

Newspapers from Germany