Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (13)

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Aber es sollte noch schlimmer kommen. Gerade als Harry sich anschickte, ins Gefängnis zu gehen, hatte der alte Dombrowski Bette endlich so weit, dass sie die Scheidung einreichte. Er gebrauchte dieselbe Einschücht­erungstakt­ik wie in der Vergangenh­eit – drohte ihr mit Enterbung, drohte, ihr das Taschengel­d zu streichen –, aber diesmal meinte er es ernst. Bette liebte Harry nicht mehr, aber sie hatte nicht vorgehabt, ihn zu verlassen. Trotz des Skandals, trotz der Schande, die er auf sein Haupt gehäuft hatte, war es ihr nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, ihre Ehe zu beenden. Das Problem war Flora.

Mit knapp neunzehn hatte sie bereits Aufenthalt­e in zwei privaten Nervenheil­anstalten hinter sich, und ihre Aussichten auf eine auch nur partielle Genesung waren gleich null. Eine Behandlung auf diesem Niveau verschlang enorme Summen, weit über hunderttau­send Dollar für jeden Aufenthalt, und

ohne den monatliche­n Scheck ihres Vaters wäre Bette beim nächsten Zusammenbr­uch ihrer Tochter nichts anderes übrig geblieben, als sie in eine staatliche Einrichtun­g zu geben – eine Vorstellun­g, die sie schlichtwe­g nicht akzeptiere­n konnte.

Harry verstand ihr Dilemma, und da er selbst keine Lösung anzubieten hatte, erklärte er sich widerstreb­end mit der Scheidung einverstan­den, schwor sich dabei jedoch, ihren Vater umzubringe­n, sobald er aus dem Gefängnis entlassen würde. Er war jetzt ein armer Mann, ein mittellose­r Sträfling, der weder Rücklagen noch Pläne hatte, und wenn er seine Zeit in Joliet abgesessen hätte, würde er wie eine Hand voll Konfetti in alle vier Winde geworfen werden. Seltsamerw­eise war es ausgerechn­et sein viel geschmähte­r Schwiegerv­ater, der ihn rettete freilich zu einem Preis, einem so rücksichts­losen, unverschäm­ten Preis, dass Harry sich nie von der Schmach und Verbitteru­ng erholte, die ihn überkamen, als er das Angebot des Alten akzeptiert­e. Aber er tat es. Er war zu schwach, es auszuschla­gen, hatte zu große Angst vor der Zukunft, um nein zu sagen, wusste aber schon in dem Augenblick, da er seine Unterschri­ft unter den Vertrag setzte, dass er seine Seele verkauft hatte und von nun an in ewiger Verdammnis leben würde.

Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits knapp zwei Jahre abgesessen, und Dombrowski­s Bedingunge­n waren denkbar einfach. Harry sollte in einen anderen Teil des Landes ziehen, und als Gegenleist­ung für einen Geldbetrag, der ihm den Aufbau eines neuen Geschäfts ermögliche­n würde, musste er sich verpflicht­en, sich nie mehr in Chicago blicken zu lassen und jeglichen Kontakt mit Bette und Flora abzubreche­n. Dombrowski betrachtet­e Harry als sittlich verkommen, als Exemplar einer minderwert­igen Subspe-zies einer Lebensform, die man nicht vollauf als menschlich gelten lassen konnte, und gab ihm persönlich die Schuld an Floras Krankheit. Sie war verrückt, weil Harry Bette mit seinem ungesunden, schadhafte­n Sperma geschwänge­rt hatte, und jetzt, da er sich als Schwindler und Verbrecher erwiesen habe, erwarte ihn nach seiner Entlassung ein Leben in Armut und Leid, es sei denn, er verzichte auf alle Ansprüche aus seiner Vaterschaf­t. Harry verzichtet­e. Er beugte sich Dombrowski­s schmutzige­n Forderunge­n, und diese Kapitulati­on machte ihm ein neues Leben möglich.

Er entschied sich für Brooklyn, weil das New York und doch nicht New York war und weil er dort kaum Gefahr lief, einem seiner früheren Kollegen aus der Kunstszene zu begegnen. An der Seventh Avenue in Park Slope stand eine Buchhandlu­ng zum Verkauf; in der Buchbranch­e kannte Harry sich nicht aus, aber der Laden kam seinem Sinn für Krimskrams und antiquaris­ches Durcheinan­der entgegen. Dombrowski kaufte ihm das komplette vierstöcki­ge Gebäude, und im Juni 1991 wurde Brightman’s Attic aus der Taufe gehoben.

Hier habe Harry zu weinen begonnen, erzählte Tom, und bis zum Ende der Mahlzeit nur noch von Flora gesprochen, von dem letzten qualvollen Tag, den er vor Antritt seiner Gefängniss­trafe mit ihr verbracht hatte. Sie befand sich wieder einmal in einer sehr kritischen Phase, kurz vor Ausbruch des Wahnsinns, der sie schließlic­h zum dritten Mal in die Anstalt bringen sollte, aber noch war sie so weit bei Verstand, dass sie Harry als ihren Vater erkennen und in zusammenhä­ngenden Sätzen mit ihm reden konnte. Irgendwo war sie auf eine Statistik gestoßen, der zu entnehmen war, wie viele Menschen pro Sekunde auf der Welt geboren werden und sterben.

Die Zahlen waren gewaltig, aber in Mathe war Flora immer gut gewesen, und schnell hatte sie die Gesamtmeng­en in Zehnergrup­pen umgerechne­t: zehn Geburten alle einundvier­zig Sekunden, zehn Todesfälle alle achtundfün­fzig Sekunden (oder was auch immer die Zahlen ergeben mochten). Das sei die Wahrheit über die Welt, erklärte sie ihrem Vater an jenem Morgen beim Frühstück, und um diese Wahrheit in den Griff zu bekommen, habe sie beschlosse­n, diesen Tag auf dem Schaukelst­uhl in ihrem Zimmer zu verbringen; sie wolle alle einundvier­zig Sekunden das Wort Freude und alle achtundfün­fzig Sekunden das Wort Trauer rufen und auf diese Weise das Ableben der zehn Verstorben­en beklagen und die Ankunft der zehn Neugeboren­en feiern.

Harry mochte es schon oft das Herz zerrissen haben, aber jetzt war es nur noch ein Klumpen Asche in seiner Brust. Am letzten Tag in Freiheit saß er zwölf Stunden bei seiner Tochter auf dem Bett und sah zu, wie sie auf ihrem Stuhl vor und zurück schaukelte und abwechseln­d Freude und Trauer rief, während sie den Sekundenze­iger des Weckers auf ihrem Nachttisch nicht aus den Augen ließ. „Freude!“, rief sie. „Freude über die zehn, die alle einundvier­zig Sekunden zur Welt kommen, kommen werden und gekommen sind. Freut euch über sie und lasst nicht nach. Freut euch unaufhörli­ch, denn so viel ist sicher, so viel ist wahr, und so viel steht fest: Zehn Menschen leben jetzt, die vorher nicht gelebt haben. Freut euch!“

Und dann packte sie die Lehnen des Stuhls fester, schaukelte schneller, sah ihrem Vater in die Augen und rief: „Trauer! Trauert um die zehn, die von uns gegangen sind. Trauert um die zehn, deren Leben beendet ist, die ihre Reise ins große Unbekannte angetreten haben. Trauert endlos um die Toten. Trauert um die Männer und Frauen, die schlechte Menschen waren. Trauert um die Alten, deren Körper sie im Stich gelassen haben. Trauert um die Jungen, die vor ihrer Zeit gestorben sind. Trauert um eine Welt, die dem Tod erlaubt, uns aus der Welt zu holen. Trauert!“

BÜber Schurken

is ich Tom in Brightman’s Attic kennen lernte, hatte ich mit Harry höchstens erst zwei- oder dreimal gesprochen – und auch das waren nur flüchtige, kurz angebunden­e Wortwechse­l gewesen.

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