Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie viel ist ein Leben wert?
Justiz Ein Autofahrer übersieht in Pfersee einen Zweijährigen, der Junge stirbt. Der Fahrer muss eine Geldstrafe bezahlen, obwohl er das Kind nicht sehen konnte. Wie die Gerichte in solche Fällen urteilen – und wie Angehörige damit umgehen
Das Straßenschild an einer Ecke der Ludwig-Thoma-Straße in Pfersee ist zu einem Mahnmal geworden. Am Pfosten des Vorfahrt-achtenSchildes hängen viele Kuscheltiere. Auf einem Zettel steht: „In dieser schweren Zeit wünschen wir Ihnen viel Kraft und Gottes Unterstützung.“Ende September vorigen Jahres ist hier ein zweijähriger Junge gestorben. Der Junge wurde von einem Auto erfasst, als er mit einer Kindergruppe und mehreren Tagesmüttern die Straße überquerte. Jetzt, gut sieben Monate danach, ist das Strafverfahren gegen den Autofahrer abgeschlossen. Der 28-jährige Mann hat eine Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung akzeptiert.
Die Strafe wurde ohne Gerichtsverhandlung verhängt. Ein Richter des Amtsgerichts erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen sogenannten Strafbefehl. Der Richter orientierte sich dabei an dem, was den Vorfall in den Akten steht. Der 28-Jährige verzichtete nach Angaben seines Anwalts Stefan Mittelbach auf einen Einspruch. Damit ist die Strafe in Höhe von 5400 Euro rechtskräftig geworden. Im Vorstrafenregister wird die Strafe nicht eingetragen. Sie liegt nach Informationen unserer Redaktion knapp unter der Grenze, ab der ein solcher Eintrag erfolgt. Auch den Führerschein verliert der Mann nicht.
Ist diese verhältnismäßig milde Strafe nach dem Tod eines Menschen angemessen? Marion Zech, eine erfahrene Opferanwältin, weiß aus Erfahrung, dass Angehörige in solchen Fällen oft unzufrieden sind mit der Strafhöhe. „Sie sehen die Geldstrafe und fragen sich: So wenig soll mein Kind wert sein?“, sagt Marion Zech. So dürfe man es aber nicht sehen. Die Gerichte, sagt sie, urteilen in solchen Fällen in aller Regel angemessen. „Es sind leider oft Situationen, wie sie jedem passieren können“, sagt die Anwältin. dafür könne man keine Gefängnisstrafe verhängen. Wichtig sei, das alles den Angehörigen ausführlich zu erklären. Sie ist deshalb auch der Ansicht, dass eine Gerichtsverhandlung in vielen Fällen für Angehörige besser ist als eine Verurteilung des Fahrers auf rein schriftlichem Weg. In der Praxis allerdings wählen Staatsanwaltschaft und Gerichte oft die weniger aufwendige Variante des Strafbefehls.
Im Fall des Unfalls in Pfersee hat ein Gutachten nach Informationen unserer Redaktion ergeben, dass der 28-Jährige den Jungen gar nicht sehen konnte, als er losfuhr. Er hatte zunächst angehalten, um die Gruppe über die Straße gehen zu lassen. Er war aber zu früh weitergefahren und hatte dann den Zweijährigen erfasst. Dass er den Jungen nicht sehen konnte, bewahrte den Autofahrer nicht vor einer Strafe. Denn die Regeln sind besonders streng, wenn es um Kinder, Behinderte, Kranke oder Senioren geht. Wer ein Fahrüber zeug führt, so steht es in der Straßenverkehrsordnung, muss sich so verhalten, „dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist“. In der Praxis heißt das: Es gibt nur wenige Ausnahmefälle, in denen ein Autofahrer ohne Bestrafung davonkommt, wenn er ein Kind angefahren hat. Denn laut Vorschrift darf es ja gar nicht erst zu solch einer Gefährdung kommen.
Ganz ähnlich ist die Situation bei Unfällen zwischen Lastwagen und Radfahrern. In vielen Fällen befinden sich die Radler im sogenannten toten Winkel – also in jenem Bereich, der von den Spiegeln des Fahrzeugs nicht abgedeckt wird. Doch auch hier gilt: Ein Lkw-Fahrer geht nicht etwa straffrei aus, weil er das Unfallopfer nicht sieht. Zuletzt gab es am Augsburger Amtsgericht mehrere Urteile, in denen die Richter klarstellten, dass der Fahrer so langsam fahren muss, dass zum Beispiel beim Abbiegen eine Gefährdung von Radfahrern ausgeUnd schlossen ist – im Zweifel eben im Schritttempo. Verhängt wurden dabei jeweils Geldstrafen in einem ähnlichen Bereich wie nun bei dem 28-jährigen Autofahrer. Die Zulassungsordnung schreibt außerdem vor, dass es einen „toten Winkel“gar nicht geben darf. Fahrzeuge müssen demnach immer so ausgestattet sein, „dass der Fahrzeugführer nach rückwärts, zur Seite und unmittelbar vor dem Fahrzeug ... alle für ihn wesentlichen Verkehrsvorgänge beobachten kann“.
Gegen die Tagesmutter, die in Pfersee mit dem Jungen am Ende der Gruppe ging, läuft nach Angaben der Staatsanwaltschaft kein Strafverfahren. Zunächst stand die Frage im Raum, ob sie ausreichend auf das Kind aufgepasst hat. Offenbar gab es dazu unterschiedliche Aussagen. Die Ermittlungen hätten aber „keinen Anfangsverdacht“gegen die Frau ergeben, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft auf Anfrage.