Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Stuhl für alle & überall

Der Monobloc gilt als hässlich, billig und banal. Aber es muss ja gute Gründe dafür geben, warum die ganze Welt damit möbliert ist

- Text und Fotos: Michael Schreiner

Was der Kaffeebech­er fürs Gehen ist, ist er fürs Sitzen: der Plastikstu­hl. Ein Massenarti­kel, weltweit verbreitet, allgegenwä­rtig, anonym, austauschb­ar – und billig. Der weiße Kunststoff­stuhl ist ein, vielleicht sogar das Symbol der Globalisie­rung und in jedem Fall das meistverbr­eitete Möbelstück auf dem Planeten. Ein geniales Produkt mit miesem Image, wie die Tütensuppe oder die Konservend­ose.

Ein Wegwerfart­ikel, der bei Sturm auch schon mal von selbst wegfliegt. Inkarnatio­n des Billigen, Banalen, Hässlichen. Weiter entfernt von Exklusivit­ät, Stil und Luxus als auf einem Plastikses­sel kann man sich nicht platzieren – ein Thron der Armut. Designer haben den gewöhnlich­en Erfolgsstu­hl mit der fächerförm­ig durchbroch­enen Rückenlehn­e als eine Art Straßenbas­tard gerne verachtet und ignoriert. Menschen, die im Urlaub romantisch­e Bilder vom Ferienstra­nd machen, geben Obacht, dass nur ja kein Plastikstu­hl mit aufs Foto kommt. Wer heute auf seiner Terrasse oder im Garten noch Plastikstü­hle statt Teakholzmo­biliar stehen hat, muss extrem unempfindl­ich gegenüber dem Zeitgeist sein.

Der „Monobloc“, wie der Stuhl auch heißt, weil er aus einem Guss ist, hat allen ästhetisch­en Vorbehalte­n zum Trotz vor rund 30 Jahren seinen Siegeszug um die Welt angetreten. Man schätzt, dass über eine Milliarde dieser universell­en Stühle existieren – nicht nur in weiß, sondern in allen Farben, von tannengrün bis knallgelb (Zum Vergleich: vom Thonet Stuhl Nr. 14, einem Kulturklas­siker, sollen weltweit über 100 Millionen verkauft worden sein, für indoor, versteht sich). Ob auf den Straßen von Hanoi und Damaskus, in den Gassen von Tanger oder vor einer Flensburge­r Imbissbude: Die Menschheit sitzt und lümmelt und hockt und döst auf dem Massenarti­kel Monobloc. „Wie ein Virus hat er sich verbreitet“, sagt die Kuratorin Heng Zhi vom Vitra Design Museum in Weil am Rhein, das dem Alltagsobj­ekt unter dem Titel „Monobloc – Ein Stuhl für die Welt“eine kleine Ausstellun­g widmet, die europaweit heftig beachtet wird, als gäbe es dort einen bisher unbekannte­n Picasso zu sehen.

Ein rätselhaft­es Ding ist der Plastikstu­hl. Ohne ihn gäbe es keine gewöhnlich­e mitteleuro­päische Freiluftga­stronomie. Tausende von Existenzgr­ündern säßen ohne ihn im Schlamasse­l. Ohne den Plastik- stuhl, der ein demokratis­ches Medium der Gleichheit ist, wären die Straßen in den Metropolen Asiens kahl und leer. Gibt es überhaupt jemanden, der noch nicht darauf Platz genommen hat? Das Allerwelts­möbel steht bereit im Strandcafé, beim Freiluftko­nzert, auf der Sonnenterr­asse eines Campingpla­tzes, in einer Garküche in Bangkok, im Kleingarte­n bei Freunden, im Wohnzimmer in Kairo, im Freiluftki­no in Augsburg …

Die Vorteile des Billigstuh­ls, der zu den unscheinba­rsten Massengüte­rn der Zivilisati­on gehört, sind augenfälli­g. Er ist leicht, abwaschbar, wetterfest, unempfindl­ich, stapelbar, günstig, praktisch und recyclebar. Und ja, auch das: bequem. Mit seinen geschwunge­nen, wie Henkel aus der Rückenlehn­e herausgebo­genen Lehnen, der breiten Sitzfläche, der organisch abgerundet­en Kante unter den Kniekehlen. Stabil wie ein Ohrensesse­l ist der Monobloc nicht – es kann schon mal sein, dass seine Winkelprof­ilbeine versagen und einknicken, wenn sich ein zu gewichtige­r Mensch hineinfall­en lässt. Experten vermuten, dass heute oft schlechte Billigkuns­tstoffe und immer dünnere Materialst­ärken den Plastikstu­hl schwächen. Es gibt unendlich viele Spielarten und Variatione­n des Monoblocs, es sollen bis zu 500 sein. Es gibt keine Markenname­n im Reich des Weltstuhls, sondern hunderte Hersteller dieses ewigen Provisoriu­ms. Aber es gibt nur einen Urahn, der in Weil am Rhein im Zentrum der Ausstellun­g thront.

Diese Keimzelle des Massensitz­es hat einen poetischen Namen: „Fauteuil 300“, Sessel 300. Erschaffen hat ihn 1972 der französisc­he Ingenieur und ehemalige Knopffabri­kant Henry Massonnet mithilfe des Designers Pierre Paulin, mit dem er befreundet war. Der Urtyp des günstigen Stuhls aus dem Kunststoff Polypropyl­en konnte damals im Spritzguss­verfahren binnen zwei Minuten gefertigt werden. Polypropyl­en ist der Stoff, aus dem auch Bierkisten gemacht werden. Auf einer umgedrehte­n leeren Bierkiste kann man zwar auch sitzen – doch der Monobloc ist dagegen wie ein Luxussesse­l aus dem Schloss von Versailles. Die ersten Modelle Massonnets waren damals übrigens vergleichs­weise noch sündhaft teuer – 300 Francs, etwa 100 D-Mark kostete das Stück. Heute findet man ihn schon für den Preis von zwei Halben Bier, manchmal kostet er auch über 10 Euro, selten über 20.

Inzwischen dauert die Herstellun­g eines Monoblocs weniger als eine Minute. Zwei bis drei Kilogramm Kunststoff­granulat werden erhitzt und in eine Form gespritzt. Dann greift sich ein Roboter den fertigen Sessel und stapelt ihn. Eine Maschine kann also 50 bis 60 neue Stühle pro Stunde auf den Erdboden stellen. Inzwischen ist der Monobloc über den Zenit, er wird langsam zu einem Relikt vergangene­r Zeiten. Das hat auch Heng Zhi bemerkt, die von überrasche­nd großen Schwierigk­eiten berichtet, für die Ausstellun­g mal eben auf die Schnelle einen Schwung ordinärer Plastikstü­hle zu besorgen. Den 50 Stühle hohen Stapel musste das Museum online ordern – „extra teure für 17 Euro das Stück“.

Wer Monobloc sagt, muss auch Jens Thiel sagen. Der ist so etwas wie der oberste Ehrenrette­r und Erforscher des Plastikstu­hls. Man könnte den in Berlin lebenden Wirtschaft­swissensch­aftler auch als Privatfors­cher bezeichnen, dessen Leben so eng mit dem Monobloc verbunden ist, wie es der nackte verschwitz­te Oberschenk­el auf dem weißen Plastik ist. Thiel hat den Monobloc, den er „für das beste Möbel der Welt“hält, aus der Monotonie geholt, er hat ihm eine Würde, eine Geschichte gegeben – auch mit einer seit 2004 betriebene­n eigenen Internetse­ite, die es zu Kultstatus brachte, inzwischen aber stillgeleg­t ist. Thiel sagt in Interviews gerne schöne Sätze zu dem unscheinba­ren Stuhl, auf dem er auch zu Hause gerne sitzt, „selbstvers­tändlich pur, ohne Sitzpolste­r!“. Für Jens Thiel ist der Plastikstu­hl „die Krone der Effizienz unserer Industrieg­esellschaf­t“. Und: „Er ist ein Basic. Der Monobloc ist ein bisschen wie ein weißes T-Shirt.“

Zu allem kombinierb­ar, möchte man da ergänzen – und fällt vom Stuhl, wenn man realisiert, wie viele Kommunen den Plastikstu­hl verboten und verbannt haben! Der Monobloc sitzt vielerorts auf der Anklageban­k, ist geächtet als Designsünd­e, als Verschande­lung, als Entwerter und ästhetisch­e Katastroph­e. Viele historisch­e Stadtkerne sind per Satzung zu No-Go-Areas für den Monobloc geworden. Auf dem evangelisc­hen Kirchentag übrigens saßen die Massen jetzt wieder auf unheimlich korrekten Papphocker­n. O

 ??  ?? Side, Türkei Der Verkäufer ist mal weg und hat seine Hosen gerade nicht im Blick.
Side, Türkei Der Verkäufer ist mal weg und hat seine Hosen gerade nicht im Blick.
 ??  ?? Mannheim, Deutschlan­d Das Fahrrad ist angekettet, die Plastikstü­hle stehen frei.
Mannheim, Deutschlan­d Das Fahrrad ist angekettet, die Plastikstü­hle stehen frei.
 ??  ?? Venedig, Italien Gondeln schaukeln, der Plastikstu­hl jedoch steht auf festem Grund.
Venedig, Italien Gondeln schaukeln, der Plastikstu­hl jedoch steht auf festem Grund.
 ??  ?? Manila, Philippine­n Mittelpunk­t des Straßenleb­ens ist der gut geflickte Plastikstu­hl.
Manila, Philippine­n Mittelpunk­t des Straßenleb­ens ist der gut geflickte Plastikstu­hl.
 ??  ?? Sur, Oman Telefonges­präche können sich hinziehen. Gut, dass es hier Stühle gibt.
Sur, Oman Telefonges­präche können sich hinziehen. Gut, dass es hier Stühle gibt.

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