Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wenn aus Leid und Streit gemeinsame Geschichte wird
Leitartikel An Pfingsten erinnern Vertriebene traditionell an ihr Schicksal. Ihre Sicht auf die Vergangenheit wandelt sich zu einem fortschrittlichen Blick nach vorn für Europa
Die mitteleuropäische Region des heutigen Tschechiens, Österreichs und Deutschlands kann auf eine Geschichte ebenso reich an Leid und Kriegen wie auch an großartiger gemeinsamer Kultur zurückblicken. Franz Kafka etwa schrieb in Prag deutschsprachige Weltliteratur. Oder der ebenfalls in Prag geborene Egon Erwin Kisch begründete dort den modernen deutschen Journalismus.
Während Kafka vor der Machtergreifung der Nazis an den Folgen seiner Lungentuberkulose starb, musste Kisch – wie Kafka Jude – um die halbe Welt ins Exil fliehen, um nicht in deutschen Konzentrationslagern oder Gaskammern zu enden. Sechs Millionen Juden wurden Opfer des deutschen Völkermords.
Mit dem Zweiten Weltkrieg brachte Nazi-Deutschland über Europa und die Welt nie zuvor da gewesenes Leid und den Tod von Millionen von Menschen. Der Nationalsozialismus beraubte das eigene Land auch bei seiner Kultur, nicht nur, weil die NS-Schergen Intellektuelle ins Exil trieben oder ermordeten.
Den Preis für das Grauen der Naziherrschaft bezahlten zum Ende des Krieges auch die zwölf Millionen Vertriebenen: Allein aus Böhmen und Mähren wurden rund drei Millionen Sudetendeutsche vertrieben. Die jahrhundertealte gemeinsame Kultur der deutschund tschechischsprachigen Bevölkerung wurde durch das Gift des Nationalismus binnen weniger Jahre beinahe ausgelöscht.
Jahrzehntelang taten sich Deutsche und Tschechen schwer, die dunkelsten Jahre der gemeinsamen Geschichte mit Blick auf die Vertreibung aufzuarbeiten. Vor allem das Verhältnis der Nachbarn Tschechien und Bayern war schwer belastet: Bayern versteht sich als neue Heimat der Sudetendeutschen; hat sie neben Altbayern, Schwaben und Franken zu seinem „vierten Stamm“erklärt, wie es 1954 der damalige CSU-Ministerpräsident Hans Ehard formulierte.
Über 20 Jahre dauerte es nach dem Mauerfall, bis Horst Seehofer 2010 als erster bayerischer Ministerpräsident offiziell Bayerns größtes Nachbarland Tschechien besuchte. Zuvor herrschte diplomatische Eiszeit: Prag verweigerte sich konsequent der Münchner Forderung, die Dekrete des damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes aufzuheben, die die Vertreibung der Sudetendeutschen rechtlich legitimiert hatten.
Der Streit um die Benes-Dekrete dominierte jahrelang die politische Auseinandersetzung – vor allem rund um die jährlichen Pfingsttreffen der Sudetendeutschen. Dass die Eiszeit zwischen Bayern und Tschechien überwunden wurde, ist nicht nur ein großes Verdienst Seehofers. Noch mehr ist der Blick in eine positive Zukunft, die auf der alten gemeinsamen Kultur aufbaut, eine Leistung des Europapolitikers Bernd Posselt: Er hat als Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft die Vertriebenen-Organisation nicht nur konsequent von jeglichen oft unterstellten Revanchismus-Vorwürfen befreit, sondern sie auch mit viel Überzeugungsarbeit zu einem proeuropäischen Brückenbauer geformt.
So begrüßt Posselt am Sonntag den tschechischen Regierungsvize Pavel Belobradek als Ehrengast auf dem Sudetentag in Augsburg – ein jahrzehntelang undenkbarer Akt.
Und während auf dem halben Kontinent von der Krise Europas die Rede ist, wird am Wochenende ausgerechnet auf einem Vertriebenentreffen fortschrittlich der Geist der europäischen Verständigung beschworen. Denn dort weiß man angesichts der eigenen leidvollen Geschichte, dass sieben Jahrzehnte nach der Vertreibung zugleich sieben Jahrzehnte Frieden in Mitteleuropa bedeuten. Das wertvollste Gut der europäischen Einigung.