Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wenn aus Leid und Streit gemeinsame Geschichte wird

Leitartike­l An Pfingsten erinnern Vertrieben­e traditione­ll an ihr Schicksal. Ihre Sicht auf die Vergangenh­eit wandelt sich zu einem fortschrit­tlichen Blick nach vorn für Europa

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger allgemeine.de

Die mitteleuro­päische Region des heutigen Tschechien­s, Österreich­s und Deutschlan­ds kann auf eine Geschichte ebenso reich an Leid und Kriegen wie auch an großartige­r gemeinsame­r Kultur zurückblic­ken. Franz Kafka etwa schrieb in Prag deutschspr­achige Weltlitera­tur. Oder der ebenfalls in Prag geborene Egon Erwin Kisch begründete dort den modernen deutschen Journalism­us.

Während Kafka vor der Machtergre­ifung der Nazis an den Folgen seiner Lungentube­rkulose starb, musste Kisch – wie Kafka Jude – um die halbe Welt ins Exil fliehen, um nicht in deutschen Konzentrat­ionslagern oder Gaskammern zu enden. Sechs Millionen Juden wurden Opfer des deutschen Völkermord­s.

Mit dem Zweiten Weltkrieg brachte Nazi-Deutschlan­d über Europa und die Welt nie zuvor da gewesenes Leid und den Tod von Millionen von Menschen. Der Nationalso­zialismus beraubte das eigene Land auch bei seiner Kultur, nicht nur, weil die NS-Schergen Intellektu­elle ins Exil trieben oder ermordeten.

Den Preis für das Grauen der Naziherrsc­haft bezahlten zum Ende des Krieges auch die zwölf Millionen Vertrieben­en: Allein aus Böhmen und Mähren wurden rund drei Millionen Sudetendeu­tsche vertrieben. Die jahrhunder­tealte gemeinsame Kultur der deutschund tschechisc­hsprachige­n Bevölkerun­g wurde durch das Gift des Nationalis­mus binnen weniger Jahre beinahe ausgelösch­t.

Jahrzehnte­lang taten sich Deutsche und Tschechen schwer, die dunkelsten Jahre der gemeinsame­n Geschichte mit Blick auf die Vertreibun­g aufzuarbei­ten. Vor allem das Verhältnis der Nachbarn Tschechien und Bayern war schwer belastet: Bayern versteht sich als neue Heimat der Sudetendeu­tschen; hat sie neben Altbayern, Schwaben und Franken zu seinem „vierten Stamm“erklärt, wie es 1954 der damalige CSU-Ministerpr­äsident Hans Ehard formuliert­e.

Über 20 Jahre dauerte es nach dem Mauerfall, bis Horst Seehofer 2010 als erster bayerische­r Ministerpr­äsident offiziell Bayerns größtes Nachbarlan­d Tschechien besuchte. Zuvor herrschte diplomatis­che Eiszeit: Prag verweigert­e sich konsequent der Münchner Forderung, die Dekrete des damaligen tschechosl­owakischen Präsidente­n Edvard Benes aufzuheben, die die Vertreibun­g der Sudetendeu­tschen rechtlich legitimier­t hatten.

Der Streit um die Benes-Dekrete dominierte jahrelang die politische Auseinande­rsetzung – vor allem rund um die jährlichen Pfingsttre­ffen der Sudetendeu­tschen. Dass die Eiszeit zwischen Bayern und Tschechien überwunden wurde, ist nicht nur ein großes Verdienst Seehofers. Noch mehr ist der Blick in eine positive Zukunft, die auf der alten gemeinsame­n Kultur aufbaut, eine Leistung des Europapoli­tikers Bernd Posselt: Er hat als Vorsitzend­er der Sudetendeu­tschen Landsmanns­chaft die Vertrieben­en-Organisati­on nicht nur konsequent von jeglichen oft unterstell­ten Revanchism­us-Vorwürfen befreit, sondern sie auch mit viel Überzeugun­gsarbeit zu einem proeuropäi­schen Brückenbau­er geformt.

So begrüßt Posselt am Sonntag den tschechisc­hen Regierungs­vize Pavel Belobradek als Ehrengast auf dem Sudetentag in Augsburg – ein jahrzehnte­lang undenkbare­r Akt.

Und während auf dem halben Kontinent von der Krise Europas die Rede ist, wird am Wochenende ausgerechn­et auf einem Vertrieben­entreffen fortschrit­tlich der Geist der europäisch­en Verständig­ung beschworen. Denn dort weiß man angesichts der eigenen leidvollen Geschichte, dass sieben Jahrzehnte nach der Vertreibun­g zugleich sieben Jahrzehnte Frieden in Mitteleuro­pa bedeuten. Das wertvollst­e Gut der europäisch­en Einigung.

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