Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Aufrütteln und wach machen

- VON FRANZISKA OTTLIK klartext@augsburger allgemeine land.de

Ich liebe unterschie­dliche Menschen, die mir das Gefühl geben, ein Teil von ihnen zu sein. Deshalb genieße ich es, mich in inklusiven Gruppen zu bewegen.

Dort herrscht ein ganz besonderer Geist: Jeder hilft jedem, alles sind füreinande­r da. Menschen ohne Behinderun­g sind angetan von der Liebe und Zuwendung, die dort fließt. Noch heute träume ich von der Berlinreis­e, die ich mit einer solchen Gruppe unternomme­n hatte.

Ich denke an wunderbare Erlebnisse und tolle Erfahrunge­n. Meine Seele war hellwach, meine Aufmerksam­keit und Konzentrat­ion um ein Vielfaches höher als im Alltag. Unsere Behinderun­g haben wir nicht als Einschränk­ung erlebt, sondern als Selbstvers­tändlichke­it. Genau so sollte eine Gesellscha­ft doch sein: Alle Menschen selbstvers­tändlich so zu akzeptiere­n, wie sie sind.

Eine ganze wirtschaft­liche Branche lebt von uns – Sonderschu­len, Heime, Pflegeeinr­ichtungen, viele Krankenhäu­ser und Ärzte. Inklusiv helfen wir uns gegenseiti­g und haben sogar Spaß dabei.

Auf profession­elle Hilfe kann und will ich nicht ganz verzichten. Aber mein Umfeld, das bestimme ich selbst – ohne dass mir jemand reinredet. Ich bin eine glückliche Mitbürgeri­n: selbstbest­immt und mitten in der Gesellscha­ft. Ich wünsche mir sehr, dass alle Menschen so leben dürfen wie ich. Dass jeder in den Genuss gegenseiti­ger Achtung und Respekt kommt.

Übung braucht es schon. Denn jeder von uns hat ein kleines Egoschwein in sich. Und neben einem Menschen mit Behinderun­g fällt gesunden Menschen auf, dass es ihnen eigentlich ganz gut geht. Das ist wohl auch ein Teil meiner Lebensaufg­abe: durch mich anderen bewusst zu machen, wie gut sie es haben.

Bedankt hat sich bei mir bisher leider noch niemand dafür. Auf der anderen Seite kenn ich die vielen mitleidige­n Blicke und Entrüstung zu Genüge. Bist du vielleicht der oder die Erste, die mir gratuliert? Ich würde mich freuen. O

Franziska Ottlik ist 23 Jahre alt und von Geburt an schwerbehi­ndert. Sie ist halbseitig gelähmt und kann nicht spre chen, sondern nur Laute von sich ge ben. Zudem leidet sie an einer Koordinati onsstörung, weswegen es ihr schwer fällt, ihre Gliedmaßen zu steuern. In unse rer Kolumne schreibt Franziska über ih ren Alltag mit Behinderun­g. Mithilfe der sogenannte­n gestützten Kommunikat­i on kann Franziska sich ausdrücken. Dazu zeigt sie mit dem Finger Buchstaben auf einer Tafel, eine Assistenti­n setzt diese zu Wörtern zusammen. Das funktio niert so gut, dass sie selbst Telefonate führen kann. Wer mehr über sie erfah ren will, schaut auf ihren Blog: www.franziskao­ttlik.wordpress.com.

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