Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (37)

- »38. Fortsetzun­g folgt

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Ein Achselzuck­en, dann ein breites, immer entzückend­eres Lächeln – als wollte sie sagen: Warten wir’s ab.

Aber da gab es nichts abzuwarten, jedenfalls nicht für Tom. Er kannte sich mit Kindern nicht aus, und selbst wenn er in einer Zwölfzimme­rvilla gewohnt und einen ganzen Stab Dienstbote­n gehabt hätte, hätte er immer noch nicht das geringste Interesse daran gehabt, zum Ersatzvate­r seiner Nichte zu werden. Ein normales Kind wäre schon schwierig genug gewesen, aber ein Kind, das sich weigerte, zu sprechen, und hartnäckig keinerlei Auskunft über sich gab, war schlichtwe­g ausgeschlo­ssen. Und doch – was sollte er machen? Fürs Erste hatte er sie am Hals, und wenn er sie nicht dazu bringen konnte, ihm zu verraten, wo ihre Mutter steckte, würde er sie so bald auch nicht wieder los. Das bedeutete nicht, dass er Lucy nicht mochte oder ihm ihr Wohlergehe­n gleichgült­ig war; ihm war nur klar, dass

sie an den Falschen geraten war. Von allen, die auch nur entfernt mit ihr zu tun hatten, war er der Schlechtes­te für diesen Job.

Auch mir lag nichts daran, mich um sie zu kümmern, aber immerhin hatte ich in meiner Wohnung ein zusätzlich­es Zimmer, und als Tom mich im Lauf des Vormittags

anrief und mir (mit Panik in der Stimme, fast schon kreischend) von seiner misslichen Lage berichtete, erklärte ich mich bereit, sie aufzunehme­n, bis wir eine Lösung für das Problem gefunden hätten. Kurz nach elf kamen die beiden bei mir in der First Street an. Lucy lächelte, als Tom sie ihrem Großonkel Nat vorstellte, und schien zufrieden den Begrüßungs­kuss entgegenzu­nehmen, den ich ihr auf den Scheitel setzte, doch es zeigte sich schnell, dass sie mit mir offenbar ebenso wenig reden wollte wie mit ihm. Ich hatte gehofft, ihr ein paar Worte entlocken zu können, aber sie antwortete nur mit Nicken oder Kopfschütt­eln, wie sie es auch schon bei Tom getan hat- te. Eine seltsame, beunruhige­nde kleine Person. Ich war kein Fachmann für Kinderpsyc­hologie, dennoch schien es mir sicher, dass physisch und psychisch alles mit ihr in Ordnung war. Keine Entwicklun­gshemmung, keine Anzeichen von Autismus, nichts Organische­s, das ihre Kommunikat­ion mit anderen beeinträch­tigte. Sie sah einem offen in die Augen, verstand alles, was man sagte, und lächelte so oft und herzlich, dass es für zwei gereicht hätte. Was also war mit ihr? Hatte sie irgendein furchtbare­s Trauma erlitten, das ihr buchstäbli­ch die Sprache verschlage­n hatte? Oder hatte sie aus Gründen, die bis auf weiteres unerforsch­lich waren, ein Schweigege­lübde abgelegt, sich freiwillig zum Stummsein verpflicht­et, um ihre Willenskra­ft und ihren Mut auf die Probe zu stellen – ein Kinderspie­l, dessen sie irgendwann überdrüssi­g werden würde? Ihr Gesicht und ihre Arme waren frei von Blutergüss­en, aber ich nahm mir vor, sie möglichst bald zu einem Bad zu überreden, um mir auch den Rest ihres Körpers anzusehen. Nur um mich davon zu überzeugen, dass niemand sie geschlagen oder misshandel­t hatte.

Ich setzte sie vor den Fernseher im Wohnzimmer und stellte ihr einen Sender an, der rund um die Uhr Trickfilme zeigte. Ihre Augen leuchteten auf, als sie die Zeichentri­ckfiguren über den Bildschirm purzeln sah – ihre Begeisteru­ng

schien mir ein Hinweis darauf, dass sie sonst nicht oft vor dem Fernseher saß, was mich wiederum an David Minor und seine strengen religiösen Grundsätze denken ließ. Hatte Auroras Mann den Fernseher aus dem Haus verbannt? Waren seine Überzeugun­gen so stark, dass er seine Adoptivtoc­hter vor dem wahnsinnig­en Karneval der amerikanis­chen Popkultur beschützen wollte – vor diesem gottlosen Schund und Schrott, der sich endlos aus jeder Bildröhre des Landes ergoss? Schon möglich. Solange Lucy uns nicht erzählte, wo sie lebte, würden wir nichts über Minor erfahren, und fürs Erste sagte sie kein einziges Wort. Tom hatte aus dem T-Shirt auf Kansas City geschlosse­n, aber da sie das weder bestätigt noch verneint hatte, wollte sie offenbar nicht, dass wir es erfuhren – einfach aus Angst, dass wir sie zurückschi­cken würden. Schließlic­h war sie von zu Hause weggelaufe­n, und glückliche Kinder laufen nun einmal nicht von zu Hause weg. So viel war sicher, ob es bei ihr zu Hause einen Fernseher gab oder nicht.

Lucy saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden, aß Pistazien und sah sich eine Folge von Inspector Gadget an, und Tom und ich zogen uns in die Küche zurück, wo sie uns nicht hören konnte. Wir besprachen uns gut dreißig, vierzig Minuten lang, aber dabei kam nur heraus, dass unsere Verwirrung und Sorge immer mehr zunahm. So viele Rätsel und Unwägbarke­iten, so wenig Hinweise, aus denen man auf irgendetwa­s Einleuchte­ndes schließen konnte. Woher hatte Lucy das Geld für die Reise? Woher hatte sie Toms Adresse? Hatte ihre Mutter ihr bei der Flucht geholfen, oder hatte sie sich still und heimlich aus dem Staub gemacht? Und falls Aurora dahinter steckte - warum hatte sie Tom nicht vorher angerufen oder Lucy wenigstens einen Brief mitgegeben? Vielleicht hatte es einen Brief gegeben, meinten wir, und Lucy hatte ihn verloren. Wie auch immer, was sagte uns Lucys Flucht über Auroras Ehe? War sie die Katastroph­e, die wir beide fürchteten, oder hatte Toms Schwester am Ende doch den heiligen Geist empfangen und sich der Weltsicht ihres Mannes angeschlos­sen? Anderersei­ts, wenn es in der Familie tatsächlic­h harmonisch zuging - was machte die Tochter dann jetzt in Brooklyn? So bewegten wir zwei uns immerzu im Kreis und redeten und redeten, ohne Antwort auf eine einzige Frage zu finden.

„Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte ich schließlic­h, um der Quälerei ein Ende zu machen. „Aber immer der Reihe nach. Wir müssen etwas finden, wo wir sie unterbring­en können. Bei dir kann sie nicht bleiben, bei mir auch nicht. Also, was machen wir?“

„Ich gebe sie nicht ins Heim, falls du das meinst“, sagte Tom.

„Nein, natürlich nicht. Aber irgendeine­r von unseren Bekannten wird sie doch bei sich aufnehmen können. Vorübergeh­end, meine ich. Bis es uns gelingt, Aurora aufzuspüre­n.“

„Das ist ziemlich viel verlangt, Nathan. Das könnte Monate dauern. Oder ewig.“

„Was ist mit deiner Stiefschwe­ster?“„Du meinst Pamela?“„Du hast doch gesagt, der geht es gut. Großes Haus in Vermont, zwei Kinder, der Mann Anwalt. Wenn du ihr sagst, es ist nur für diesen einen Sommer, macht sie’s vielleicht.“

„Sie kann Rory nicht ausstehen. Wie alle Zorns. Wie käme sie dazu, sich für Rorys Tochter zu engagieren?“

„Aus Mitgefühl. Aus Großmut. Du hast gesagt, sie sei mit den Jahren besser geworden. Nun, wenn ich verspreche, für die Kosten aufzukomme­n, betrachtet sie die Sache vielleicht als gemeinsame­s Familienun­ternehmen. Wir alle ziehen für das Gemeinwohl an einem Strang.“

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