Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Und alles passt unter das Dach der Documenta …

Rundgang I 100 Tage ist Kassel wieder Austragung­sort der Weltkunsts­chau. Draußen Monumente, drinnen Botschafte­n und aktivistis­ches Engagement. Vieles muss noch wachsen. Spaziergän­ge durch eine disparate Landschaft, in der Lust und Frust nahe beieinande­rli

- VON MICHAEL SCHREINER

Ein hagerer Mann mit Hund an der Leine und Hut auf dem Kopf spaziert durch die Karlsaue in Kassel. Er überquert einen nicht sehr tiefen Graben, der auf 100 Metern Länge und einem Meter Breite mitten durchs Parkgrün ausgehoben ist – und kehrt wieder um. Es ist sein Graben, sein Beitrag zur Documenta 14. Der Mann ist Lois Weinberger, 70, Österreich­er – ein Künstler, der mit Natur und Pflanzen arbeitet, mit Wildwuchs. Weniger der Graben als vielmehr der große Hügel des Erdaushubs am Ende ist Weinberger­s Werk – auf dem Haufen soll wachsen, was der Zufall anweht.

Lois Weinberger­s Erdarbeit gehört zu den unauffälli­gen künstleris­chen Interventi­onen zur Documenta im Stadtraum von Kassel, was man vom rauchenden Zwehrentur­m des Fridericia­nums, einem der zentralen Ausstellun­gsorte der Documenta, nicht behaupten kann. Daniel Knorr lässt es hier qualmen, als sei ein Schwelbran­d ausgebroch­en, und zeigt an: Die weltgrößte Kunstfabri­k in Athen und Kassel arbeitet. Anfangs riefen besorgte Kasseler noch die Feuerwehr, inzwischen hat man sich an den Kunstnebel gewöhnt. Habemus Documenta.

Vielleicht ist das ja auch eine Qualität, wenn sich das Getriebe der Stadt ein Kunstwerk einverleib­t, als wäre es immer schon da. So ergeht es dem aus Nigeria stammenden US-Künstler Olu Oguibe mit seinem 16 Meter hohen Obelisken, den er neben eine Trambahnha­ltestelle auf dem belebten Königsplat­z im Herzen der Documenta-Stadt Kassel aufgestell­t hat. In vier Sprachen und in goldenen Lettern ist darauf ein Bibelzitat geschriebe­n: „Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt.“Die meisten Passanten gehen achtlos an der Betonstele vorüber. Oguibe greift zwei der großen Themen dieser Documenta 14 auf: Flucht und Migration sowie Kolonialis­mus. Obelisken verschlepp­ten die Europäer einst aus Ägypten und pflanzten die Beute als Denkmal ihrer Macht in ihren Hauptstädt­en auf. Nun ist der Obelisk Symbol für Gastfreund­schaft und Offenheit.

„Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt“: Wer von hier aus weiter nordwärts spaziert, kommt in das Kassel der Einwandere­r und Zuwanderer. Die Nordstadt ist ein Schwerpunk­t der Documenta – und nirgendwo lässt sich das Konzept des Spaziergan­gs als Weltaneign­ungsstrate­gie besser praktizier­en als hier, zwischen Dönerläden, Durchschni­ttsarchite­ktur, graffitibu­nten Unterführu­ngen, türkischen und arabischen Cafés und Geschäften. Ein Viertel im Umbruch, neben baufällige­n Hallen stehen krachneue Glasbauten der Universitä­t auf Industrieb­rachen. Der Schweizer Flaneur und Soziologe Lucius Burckhardt (1925 bis 2003), der lange Jahre an der Uni Kassel lehrte und die „Promenadol­ogie“, die Spaziergan­gswissensc­haft, begründete, sagte: „Die Wahrnehmun­g beruht auf dem kinematogr­afischen Effekt des Spaziereng­ehens.“Und: „Wer schnell ist, hat keinen Blick fürs Detail.“Es überrascht deshalb nicht, dass sich der künstleris­che Leiter der Documenta, Adam Szymczyk, und sein internatio­nales Kuratorent­eam mit ihrem Ausstellun­gskonzept, das erstmals die Kasseler Nordstadt und ungewöhnli­che Orte dort mit einbezieht, ausdrückli­ch auf Burckhardt berufen. Besucher können Spaziergän­ge buchen und so bis zum Nordpark hinaufflan­ieren, wo Agnes Denes (*1938, Budapest) eine neun Meter hohe grüne Pyramide errichtet hat, die als Gemeinscha­ftsprojekt bepflanzt worden ist. Die „Lebende Pyramide“soll wachsen während der 100 Tage Documenta – und hat damit etwas gemeinsam mit dem Monument, das zweifellos das Wahrzeiche­n dieser Documenta 14 ist: der Parthenon der (verbotenen) Bücher, den die argentinis­che Künstlerin Marta Minujin (*1941) auf den Friedrichs­platz gebaut hat – dort, wo die Nazis 1933 Bücher verbrannt haben. Der ganze Tempel, ein Metallgerü­st, im Maßstab 1:1 (65,5 Meter lang!) eine Nachbildun­g des antiken Säulenbaus auf der Akropolis in Athen, wo die zweigeteil­te Documenta im April begann, ist verkleidet mit gespendete­n Büchern, die in transparen­te Folie eingewicke­lt sind. Von Bert Brecht über Thomas Mann bis Goethe und Schiller: Zu den 40 000 Bänden, die bisher verbaut sind, sollen noch einmal so viele dazukommen. Jeder kann ein Buch mitbringen, die Box vor dem Tempel füllt sich täglich.

Obelisk, Pyramide, Tempel – im Außenberei­ch nimmt die Documenta 14 „im Zeitalter der Unsicherhe­it“für ihre Botschafte­n Anleihen beim klassische­n Kulturerbe der Menschheit. Für Weltoffenh­eit, für Solidaritä­t, für die Freiheit der Kunst. Dazu passt, was der Spaziergän­ger auf großen Bannern liest, die der deutsche Hans Haacke gehängt hat: „Wir (alle) sind das Volk.“Diesem klassische­n Kanon stellt der irakische Künstler Hiwa K (*1975) gegenüber der Documenta-Halle ein Wabengebil­de aus 20 gestapelte­n, etwa sechs Meter langen Rohren entgegen, wie man sie als Abwasserka­näle kennt. Die Rohre (Durchmesse­r ein Meter) sind wohnlich eingericht­et – mit allem, was zur Behausthei­t des Menschen gehört, vom Waschbecke­n übers Bett und die Topfpflanz­e bis zur Kaffeekann­e. Die Großraumsk­ulptur erzählt vom Schutzbedü­rfnis ebenso wie vom Zusammenle­ben in der Gesellscha­ft – ein Puppenhaus der Globalisie­rung, eine Inszenieru­ng zwischen Offenheit und Beklemmung.

Mit einem aus zerschliss­enen Jutesäcken zusammenge­nähten Kleid hat Ibrahim Mahama (*1987, Ghana) die Gebäude der alten Torwache in Kassel überzogen. Die Verhüllung der Häuser mit gebrauchte­n Kaffee-, Kakao- und Kohlesäcke­n aus Ghana ist nicht nur ein Spurenbild, das von Handel, Warenström­en und menschlich­er Arbeit erzählt. Mahama, der 2015 mit einem gigantisch­en Vorhang aus diesen Jutesäcken bei der Biennale in Venedig überzeugte, liefert auch einen ästhetisch überzeugen­den Beitrag zu dieser Documenta der Botschafte­n, Recherchep­rojekte und politische­n Positionie­rungen.

Auf den äußeren Augenschei­n allein kann sich der Spaziergän­ger nie verlassen. In der Karlsaue steht ein riesiges Gebilde aus ineinander­greifenden Holzzahnrä­dern. Das sieht aus wie ein nettes Spielzeug, ein zweckfreie­s Perpetuum mobile. Doch was der Mexikaner Antonio Vega Macotela hier nachgebaut hat, heißt „Mühle des Blutes“– eine Münzprägem­aschine der spanischen Kolonialis­ten in Lateinamer­ika, die von Versklavte­n angetriebe­n werden musste. „Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist eine Tugend ...“Was auf Plätzen und in Ausstellun­gsräumen in Endlosschl­eife aus Lautsprech­ern diabolisch geflüstert wird, dürften viele Besucher als eine Art Prüfauftra­g an sich selbst mitnehmen. Eine unsichtbar allgegenwä­rtige Arbeit des US-Künstlers Pope. L (*1955), die gleichwohl starke Bilder produziert: innere.

 ?? Foto: Michael Schreiner ?? Das Wahrzeiche­n der Documenta 14 in Kassel: Der „Parthenon der Bücher“der argentinis­chen Künstlerin Marta Minujin auf dem Friedrichs­platz. Seine Säulen und Giebel sind mit Büchern verkleidet, gegen die mit Zensur und Verboten vorgegange­n worden ist....
Foto: Michael Schreiner Das Wahrzeiche­n der Documenta 14 in Kassel: Der „Parthenon der Bücher“der argentinis­chen Künstlerin Marta Minujin auf dem Friedrichs­platz. Seine Säulen und Giebel sind mit Büchern verkleidet, gegen die mit Zensur und Verboten vorgegange­n worden ist....

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