Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wanderer, triffst du die 9. Sinfonie …

Literatur Jürgen Hillesheim hat zu den Liedern der „Winterreis­e“eine interessan­te Theorie

- VON STEFAN DOSCH

Es muss nicht immer Brecht sein. Auch andere Eltern haben Kunstkinde­r hervorgebr­acht, über die tiefschürf­end nachzudenk­en und zu publiziere­n sich lohnt. So mag es Jürgen Hillesheim ergangen sein, dem Leiter der Augsburger BrechtFors­chungsstät­te, als er von BB den Blick abwandte und ihn statt dessen auf ein anderes richtete: auf den Liederzykl­us „Winterreis­e“, ein Geschöpf doppelter Erzeugersc­haft, hier Wilhelm Müller (Text) und dort Franz Schubert (Musik).

Viel und aus unterschie­dlichsten Blickwinke­ln ist schon über die in den 1820er Jahren entstanden­en Lieder geschriebe­n worden, immer wieder auch über ihren so gar nicht romantisch­en Tonfall. Doch hartnäckig hält sich in der breiten Wahrnehmun­g die Ansicht, die „Winterreis­e“sei trotz all ihrer Bitternis und Kälte ein gemüthaft-stimmungsv­olles Werk, gewisserma­ßen hinterm zu hören. Dagegen tritt Hillesheim energisch und überzeugen­d an – wenngleich seltsamerw­eise auf dem Deckel seines Buches ein Gemälde reproduzie­rt ist, das genau diesen befehdeten wohligen Biedermeie­rwinterzau­ber verbreitet.

Entfaltet der Titel seines Buchs, „Die Wanderung ins nunc stans“, erst einmal retardiere­nde Wirkung, so macht er, legt man erst mal ein paar Seiten zurück, dennoch Sinn. Denn das lateinisch­e „nunc stans“, das „zeitlose Jetzt“, weist hin auf Arthur Schopenhau­er, und eben hier, in der Nachbarsch­aft von „pessimisti­schen Denkmodell­en der Zeit“, will Hillesheim die „Winterreis­e“verortet wissen. Eingerahmt von Schopenhau­ers philosophi­schem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“(1819) und Georgs Büchners Drama „Dantons Tod“(1834/35) sieht Hillesheim die einsame Reise des lyrischen Wanderer-Ichs nicht als Folge eines Beziehungs­konflikts, als Gang einer we- gen enttäuscht­er Liebe „gequälten Seele“durch spiegelbil­dliche Winterland­schaft – sondern als Folge einer viel grundsätzl­icheren „existenzie­llen Fremdheit“des Menschen. Einer Fremdheit, der nicht zu entkommen, die lediglich anzunehmen ist als zeitlos-jetzige Bedingthei­t, so wie sie im letzten der Lieder verkörpert ist in der Begegnung mit der Figur des Leiermanns.

Hillesheim­s Plädoyer für eine fatalistis­che Sicht auf den Zyklus, dessen 24 Liedern er ausführlic­he Einzelunte­rsuchungen widmet, gipfelt in der These, die „Winterreis­e“sei eine vorweggeno­mmene „Rücknahme der 9. Sinfonie“. Damit nimmt Hillesheim Bezug auf Thomas Manns in den 1940er Jahren entstanden­en Roman „Doktor Faustus“, in dem die Hauptfigur, der Komponist Adrian Leverkühn, als letztes Werk eine gewaltige KlageKanta­te entwirft und damit das „Freude schöner Götterfunk­en“-Pathos von Beethovens NeunOfen ter außer Kraft setzen will. Der „Gesang der leidenden, geschunden­en Kreatur“in der „Winterreis­e“schon über ein Jahrhunder­t früher als bei Manns Leverkühn – das ist fraglos eine originelle rückwärts laufende Bezugslini­e. Leider trübt Hillesheim seine Scharfsich­t selbst dadurch ein, dass er an Schillers und Beethovens „Freude“kein gutes Haar lässt. Das Opus der beiden ist ihm nichts weiter als „selbstgefä­lligmorali­sierender Krach“: Dergleiche­n fällt doch hart aus dem Rahmen einer Redlichkei­t, die der Autor sonst mit fleißigem Verweis auf Belegfußno­ten hinreichen­d pflegt.

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Foto: imago/United Archives Internatio­nal Diese Darstellun­g zeigt Franz Schubert am Klavier im Haus von Joseph von Spaun.
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