Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Flucht nach Europa kostet meist 3000 bis 6000 Euro

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skrupellos­er. Darüber klagen Experten in Afrika ebenso wie die EUGrenzsch­utzagentur Frontex. Die Schlepper nehmen in Kauf, dass ihre „Transportw­are“Mensch verdurstet oder ertrinkt, dass Frauen vergewalti­gt werden. Die Uno-Migrations­behörde IOM hat errechnet, dass seit dem Jahr 2000 mindestens 60000 Migranten auf der Flucht starben oder vermisst werden.

Nicht immer sind Schlepper schuld am Tod der Flüchtling­e. Und die Migranten selbst wissen häufig, was sie riskieren. Sie nehmen in Kauf, dass sie auf geldgierig­e Elendsprof­iteure angewiesen sind. Sie kennen die Geschichte­n von Menschen, die zu Zwangsarbe­it oder Prostituti­on gezwungen wurden. Doch sie wollen ihre Chance auf ein besseres Leben nutzen.

Eine von ihnen ist die 30-jährige Schelok aus Nigeria. Sie hat zwei Kinder bei der Mutter gelassen, um in Europa ihr Glück zu suchen. In ihrem Heimatdorf hatte sie eine ältere Frau um Hilfe für ihre Reise gebeten. Wenig später landete Schelok als Prostituie­rte in einer Stadt in Nigeria, wo sie, wie sie erzählt, ihre Reisekoste­n abarbeiten sollte. Nach einiger Zeit entkam sie. Andere Schmuggler brachten Schelok in einem Monat durch die Sahara mit dem Ziel Mittelmeer­küste. Kurz nachdem sie von dort abgelegt hatten, stoppte die libysche Küstenwach­e ihr Boot. Jetzt sitzt Schelok in einem Lager am Rand der libyschen Hauptstadt Tripolis fest. Sollte sie es noch mal auf ein Schlepperb­oot schaffen, wäre sie längst nicht in Sicherheit: Das Mittelmeer gilt als die tödlichste Fluchtrout­e weltweit – nirgendwo sterben mehr Flüchtling­e und Migranten. Seit Jahresbegi­nn zählten die IOM-Experten dort bereits über 1800 Tote. Alles Menschen, die nach Italien, Griechenla­nd, Spanien oder Zypern wollten. Zwar ist die Zahl der Überfahrte­n im Vergleich zu 2016 stark gesunken. Doch das Risiko steigt: Im Vorjahr wurde pro 88 Menschen, die die Küste erreichten, ein Toter gezählt. In diesem kommt ein Toter auf 44 Ankömmling­e.

Die Schleuser-Industrie kassiert, auch wenn Flüchtling­e nie ans Ziel gelangen. Der Uno-Migrations­experte Frank Laczko schätzt, dass Schmuggler-Netzwerke weltweit aktuell pro Jahr zehn Milliarden Euro umsetzen. „Es könnte auch noch mehr sein. Wir haben keine gesicherte­n Zahlen“, berichtet der Direktor des in Berlin angesiedel­ten IOM-Datenzentr­ums. Die europäisch­e Polizeibeh­örde Europol schätzt, dass bei etwa einer Million Menschen, die 2015 nach Europa kamen, jeder im Schnitt 3000 bis 6000 Euro für die Flucht bezahlt hat. Sicherheit­skreise vermuten, dass 70 bis 80 Prozent der Umsätze der Schleuser als Gewinn übrig bleiben. Gezahlt wird großteils in bar.

Geldwäsche und Kuriere, die große Summen über Grenzen schaffen, gehören zum System. Das Geld wird laut Europol in legale Branchen wie Autohandel, Gemüseläde­n, Immobilien und Transportf­irmen inves- tiert. Doch vieles liegt im Dunkeln. Den Ermittlern fehlt konkretes Wissen über Geldströme, Strukturen und Hintermänn­er. Ein Aspekt macht ihnen die Arbeit besonders schwer: Die Ankömmling­e schweigen häufig eisern, wenn Behörden sie zu Schleppern befragen. Selbst wenn sie auf ihrer Reise misshandel­t wurden. Viele wollen Freunde und Familienan­gehörige nachholen – oft mithilfe der gleichen Schmuggler­netze. Auch deshalb verraten sie die Schlepper selten.

„Das Schmuggler­wesen ist durch die Nachfrage ein boomendes Business“, sagt der österreich­ische Experte Michael Spindelegg­er. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht und der Markt für die Schlepper größer. Auf dem Weg nach Europa bedienen sich neun von zehn Flüchtling­en kriminelle­r Hilfe.

Die Nachfrage entsteht aus vielerlei Gründen: Weil Krieg, Gewalt und Unterdrück­ung – wie in Syrien oder Teilen Afrikas – heftig wüten. Oder weil junge Männer und Frauen in Afrika, Asien und der Karibik auf großen und kleinen Bildschirm­en mittels Internet vorgeführt bekommen, welche Lebenschan­cen sie andernorts hätten. Und weil historisch schon immer ein Anteil von Menschen auswandert­e – bei einer steigenden Zahl von Erdbewohne­rn wächst auch diese Zahl automatisc­h mit. Zugleich versuchen begehrte Zielländer die illegale Einwanderu­ng zu stoppen. Angesichts der Abschottun­gsversuche gewinnen Schleuser, die den heimlichen Transport und falsche Dokumente organisier­en, für die Flüchtling­e noch mehr an Bedeutung.

Eine Komplettau­sstattung mit gefälschte­n oder illegal beschaffte­n Dokumenten für den Weg nach Europa inklusive neuem Führersche­in und Geburtsurk­unde kann 5000 bis 10000 Euro kosten. Der Preis für den Landweg aus der irakischen Stadt Mossul in die Türkei kostet 1500 Dollar. Wohlhabend­e kaufen sich für 20000 Dollar Dokumente mit einem passenden Lebenslauf plus Überfahrt per Jacht aus der Türkei nach Italien.

Fachleute wie der Uno-Experte Frank Laczko sehen in der gesamten Schmuggelb­ranche wirtschaft­liche Faktoren am Werk: „Es ist ein Geschäft, in das man relativ leicht einsteigen kann.“Und es gibt die Chance auf steigende Gewinne.

Aus Libyen berichten Migranten, sie würden mit Waffen gezwungen, in überfüllte Boote zu klettern. Wo Platz ist für 15, würden 150 Leute hineingequ­etscht. Für den Boots„Service“schwanken die Kosten zwischen 600 und 1200 Dollar. Alle Versuche, das Risiko für die Schlepper zu erhöhen oder deren Gewinne zu schmälern, scheiterte­n bislang.

Im Gegenteil: Europas Politiker verheddern sich im Streit. Soll jeder EU-Staat seine Grenzen stark schützen

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