Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Tour de Kittel geht weiter

Radsport Die Konkurrenz ist im Massenspur­t chancenlos. Der deutsche Radstar feiert auf der elften Etappe seinen fünften Sieg und bewegt sich auf den Spuren des „Kannibalen“

- VON HARTMUT SCHERZER

Die anderen buckelten noch, da stieß Marcel Kittel schon vor der Ziellinie die rechte Faust nach oben: der fünfte Etappensie­g. Eine normale Sache? Eigentlich. Wäre da nicht der wackere Pole Maciej Bodnar vom deutschen Team BoraHansgr­ohe gewesen. Der ZeitfahrSp­ezialist schien drauf und dran, mit einem eindrucksv­ollen Solo auf den letzten 25 Kilometern einen Massenspri­nt in Pau zu verhindern.

Doch Philipp Gilbert, der prominente Belgier in der Quick-StepMannsc­haft, also der des Seriensieg­ers, holte den Solisten 400 Meter vor dem Ziel ein, scherte aus und gab den Weg frei für Kittel und dessen verzweifel­te Konkurrent­en. Derweil zeigte Gilbert, Weltmeiste­r 2012 und Klassiker-Sieger, alle fünf Finger der rechten Hand, wohl wissend, dass er den entscheide­nden Job geleistet hatte. „Ich bin wunschlos glücklich“, sagte Kittel strahlend. „Ich habe gute Beine und ein gutes Auge.“Und er hat Gilbert.

Die Superlativ­e für Marcel Kittel gehen allmählich aus. Wie die Gegner. Gleich drei Schlagzeil­en hatten sich die Redakteure von L’Équipe in Paris nach dem vierten Sieg des thüringisc­hen Supersprin­ters einfallen lassen: „Sans Pitié“. Ohne Gnade. Eine Spur von Langeweile drückte die Überschrif­t auf der Innenseite über die 10. Etappe aus: „La meme chanson.“Das gleiche Lied. Den Text vom Aufbau seiner Karriere überschrie­b die Sportzeitu­ng mit: „La galaxie Kittel.“Analog zu den politische­n Überschrif­ten vom Aufstieg des Staatspräs­identen: „La galaxie Macron.“L’Équipe hatte Kittel nach seinem ersten Triumph Flügel verliehen, „Kittel a des ailes“, und ihn nach dem Sechs-Millimeter-Sieg geadelt: „Maitre Kittel“. Der blonde Beau gab eine Selbsteins­chätzung zum Besten: „Ich bin der stärkste Marcel, der ich ja war. Ich habe mich nie besser gefühlt.“

Marcel Kittel, der mit geänderter Taktik im Massenspri­nt die Meute von hinten aufrollt, spurtet in einer eigenen Liga, nachdem Mark Cavendish, Peter Sagan und Arnoud Démare nicht mehr mit von der Partie sind. „Ein Sprinter von einem anderen Planeten“, sagt der deutsche Konkurrent John Degenkolb. Auch Landsmann André Greipel scheint zu resigniere­n, seit Kittel einmal mit „zehn km/h schneller“an ihm vorbeigera­uscht war und in Bergerac das ganze Tempobolze­n seines Lotto-Teams für die Katz war. Der Rostocker wurde nur Siebter.

Kittel hat also Erik Zabel den deutschen Rekord abgejagt, auf 14 gesteigert und müsste den sechsmalig­en Gewinner des Grünen Trikots nun auch mit dem „Maillot Vert“beerben. Aber da lobt Marcel Kittel den Tag nicht vor dem Abend, sprich, den Erfolg nicht vor Paris. „Eine verpasste Chance oder gar Krankheit können alles kaputt machen“, mahnt Kittel und verweist auf „das beste Beispiel Démare“. Der französisc­he Meister, Sieger der vierten Etappe und im grünen Hemd des eifrigen Punktesamm­lers, war so krank, dass er auf der Königsetap­pe aus der Karenzzeit und damit aus der Tour flog.

Trotz seiner Etappensie­ge – und es können ja noch der eine oder andere hinzukomme­n – ist sich der „King of the road“für die Eichhörnch­en-Methode nicht zu schade: „Ich denke von Tag zu Tag auch an die Zwischensp­rints“, erklärt Kittel.

Erik Zabel schwärmt geradezu von seinem Nachfolger: „Es ist eine Riesenfreu­de, seinen Power-Sprints zuzuschaue­n. Ich würde ihn als neuen Cipollini bezeichnen.“Mario Cipollini gewann zwischen 1993 und 1999 zwölf Tour-Etappen und spurtete 2002 in Regenbogen­trikot des Weltmeiste­rs. Kittel hat Zabel und Cipollini übertroffe­n, aber um die Rekordspri­nter der Tour-Geschichte zu erreichen, müsste der 29-Jährige schon noch ein paar Jahre siegreich durch Frankreich spurten.

An der Spitze steht Mark Cavendish mit 30, gefolgt vom Franzosen André Darrigade (Weltmeiste­r 1959) mit 22 Tagessiege­n. Aber einen anderen Rekord könnte die deutsche Rad-Sensation knacken: die acht Etappensie­ge während einer Tour des großen „Kannibalen“Eddy Merckx.

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Foto: dpa Marcel Kittel ist im Sprint bei der Tour nicht zu schlagen.

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