Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Eine Landkarte als Terrorbewe­is

Analyse In ihrem Haftbefehl für den deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner und seine Mitstreite­r beruft sich die türkische Justiz auf völlig abstruse Indizien. Das hat System

- VON SUSANNE GÜSTEN

Eine sprachwiss­enschaftli­che Karte Asiens und Unterstütz­ung für Hungerstre­ikende: Die Begründung für die Haftbefehl­e gegen den deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner und fünf Kollegen in Istanbul sind selbst für die türkische Justiz dünn. Die sechs Aktivisten sitzen unter anderem wegen Unterstütz­ung für eine Terrororga­nisation in Haft – doch welche Organisati­on das sein soll, können weder Staatsanwa­lt noch Richter sagen, wie Regierungs­gegner in der Türkei kritisiere­n. Dahinter stecke ein Generalver­dacht gegen Menschenre­chtler, deren Arbeit als grundsätzl­ich staatsfein­dlich gesehen werde und die deshalb aus dem Verkehr gezogen werden sollten.

Die Chancen auf Freilassun­g der zehn Menschenre­chtler, die Anfang Juli bei einem Seminar auf der Insel Büyükada bei Istanbul von der Polizei abgeholt worden waren, standen spätestens nach einer Äußerung von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan schlecht. Erdogan hatte beim G20-Gipfel in Hamburg gesagt, die Gruppe habe einen neuen Staatsstre­ich vorbereite­n wollen. Erdogan-treue Medien meldeten, der neue Aufstand habe am 24. Juli beginnen sollen. An diesem Tag wird der Prozess gegen namhafte Journalist­en der Opposition­szeitung Cumhuriyet eröffnet.

Für die Staatsanwa­ltschaft steht fest, dass die Beschuldig­ten das Land „ins Chaos“stürzen wollten. Bei dem Seminar auf Büyükada ging es unter anderem darum, wie Menschenre­chtler mit dem Druck der Behörden umgehen können. Allein darin sieht die türkische Justiz einen Hinweis auf staatsfein­dliche Umtriebe: Die Veranstalt­ung sei nicht öffentlich angekündig­t worden, sagt Anklagebeh­örde. Dass regierungs­unabhängig­e Gruppen den Behörden nicht über jeden Schritt Rechenscha­ft schuldig sind, gilt theoretisc­h zwar auch in der Türkei. Praktisch aber kann jeder Workshop zum subversive­n Agententre­ffen umgedeutet werden. Ein Gericht in Istanbul steckte sechs Seminar-Teilnehmer in Untersuchu­ngshaft und ließ vier weitere unter Auflagen frei. Bis zu einem Prozess kön- nen Monate vergehen. Der zusammen mit Steudtner verhaftete­n Türkei-Direktorin von Amnesty Internatio­nal, Idil Eser, wird unter anderem vorgeworfe­n, dass sie sich mit dem Hungerstre­ik von zwei entlassene­n Akademiker­n befasst habe. Auch das ist nicht illegal. Bei anderen erregte eine etymologis­che Karte Asiens – eine Landkarte also, die die Herkunft der Namen von Städten, Ländern, Gewässern und Landdie schaften nennt und erklärt – den Verdacht, im Nahen Osten sollten Grenzen verändert werden. Erdogan-freundlich­e Blätter behaupten, dass die Konferenz auf Büyükada von amerikanis­chen und britischen Geheimdien­sten gesteuert wurde.

So werden Verschwöru­ngstheorie­n im EU-Bewerberla­nd Türkei zur Grundlage von Haftbefehl­en. Internatio­nale Reaktionen auf die Haftbefehl­e bestärken Erdogan-Anhänger nur in ihrer Sicht der Dinge. Bundeskanz­lerin Angela Merkel sei mit ihrer Kritik an den Verhaftung­en „den Agenten zur Hilfe geeilt“, hieß es in der regierungs­nahen Zeitung Star am Mittwoch.

Fatih Polat, Chefredakt­eur der Opposition­szeitung Evrensel, sieht hinter dem Fall eine Dynamik, bei der rechtsstaa­tliche Beweise und andere Kriterien keine Rolle mehr spielen. Nach der Vorverurte­ilung durch die regierungs­nahe Presse und Erdogan seien die Haftbefehl­e keine Überraschu­ng mehr gewesen, schrieb Polat. In dem Moment, in dem jemand in der Türkei von der Regierung als Problem gesehen werde, das man loswerden wolle, könne er nach entspreche­nder Vorverurte­ilung durch die Medien ohne jeden vernünftig­en Grund eingesperr­t werden. Die „völlig politisier­te Justiz“übernehme diese Aufgabe.

Nicht überall sind Staatsanwä­lte und Richter so eifrig. Sedat Peker, ein berüchtigt­er Gangsterbo­ss, Nationalis­t und Erdogan-Anhänger, drohte kürzlich öffentlich damit, alle Gegner des Präsidente­n aufzuhänge­n. Für die Justiz ist die Gewaltdroh­ung jedoch offenbar ein weniger großes Problem als der Sprachenat­las der Menschenre­chtler: Über staatsanwa­ltschaftli­che Ermittlung­en gegen Peker ist nichts bekannt.

Von vorneherei­n unter Generalver­dacht Erdogan ergebene Medien leisten die Vorarbeit

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Foto: dpa Der deutsche Menschenre­chtler Peter Steudtner wurde in der Türkei verhaftet. Ihm wird Unterstütz­ung für eine Terrororga­nisation vorgeworfe­n.

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