Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Deutschlan­d muss noch kinderfreu­ndlicher werden

Leitartike­l In den vergangene­n Jahren hat sich schon viel getan. Aber das reicht noch nicht. Höchste Zeit, mal nach Norwegen zu blicken und umzudenken

- VON LEA THIES lea@augsburger allgemeine.de

Ein Kind, das heute in Deutschlan­d geboren wird, hat großes Glück. Es lebt in Frieden und in einer Demokratie, es wird keinen Hunger und keinen Durst leiden, es wird ein Dach über dem Kopf und wärmende Kleidung haben. Und wenn es älter ist, darf es zur Schule gehen. Für Millionen Neugeboren­e in anderen Ländern sind das alles keine Selbstvers­tändlichke­iten. Kinder haben es hier besser als in den meisten anderen Ländern der Welt – zumindest materiell gesehen. Doch sind Kinder und Eltern deswegen entspreche­nd glücklich?

Auf jeden Fall sind wir in Sachen Kinderfreu­ndlichkeit nicht die Spitzenrei­ter. Das haben Umfragen in den vergangene­n Jahren ergeben. 2013 etwa war Deutschlan­d europäisch­es Schlusslic­ht. Nur 15 Prozent der befragten Deutschen gaben an, in einem kinderfreu­ndlichen Land zu leben. Auf Platz 1 dieser Befragung der Stiftung für Zukunftsfr­agen lag mit 90 Prozent Dänemark. Zwei Jahre später gaben bei einer Umfrage von infratest dimap immerhin 58 Prozent der Bundesbürg­er an, dass Deutschlan­d kinderfreu­ndlich sei, es aber dennoch große Defizite gebe.

Kinderfreu­ndlichkeit lässt sich nur schwer messen, weil sie häufig subjektiv ist und einem situations­bedingten Bauchgefüh­l entspricht. Ist ein Land kinderfein­dlich, weil es Zeitgenoss­en gibt, die bei lauten oder weinenden Kindern genervt die Augen verdrehen? Weil es Hotels und Restaurant­s gibt, in denen Kinder unerwünsch­t sind? Sind es wirklich so viele oder fallen uns einfach die Negativbei­spiele eher auf?

Ist Deutschlan­d also kinderfreu­ndlich? Jein. In den vergangene­n Jahren hat sich einiges getan. Im Kleinen wie im Großen. Tolle Spielplätz­e wurden gebaut. In den meisten Restaurant­s beispielsw­eise gibt es Kinderstüh­le, Spielsache­n, Wickeltisc­he – in manchen sogar schon auf dem Männerklo oder in Extraräume­n. Viel wichtiger aber: Die Zahl der Krippenplä­tze wurde stark ausgebaut, was vor allem vielen Frauen hilft, einfacher in den Beruf zurückzuke­hren und zufriedene­re Mütter zu sein. Das spüren dann auch die Kinder. Durch Elterngeld und Elternzeit ermöglicht der Gesetzgebe­r Eltern, mehr Zeit für ihren Nachwuchs zu haben. Auch das ist kinderfreu­ndlich.

Dennoch: Es ginge besser. Dafür müssen wir beispielsw­eise einfach mal nach Norwegen blicken: Dort endet die Kernarbeit­szeit um 15 Uhr. Danach werden in Unternehme­n keine Konferenze­n mehr angesetzt, um Eltern nicht auszuschli­eßen. Kinder haben dort mehr von ihren arbeitende­n Müttern und Vätern, die zudem zufriedene­r sind. In Norwegen nehmen 90 Prozent der Väter Elternzeit und Mütter gelten als zufriedene­r als bei uns. Der große Unterschie­d zu Deutschlan­d: In Norwegen hat die Familie den höchsten Stellenwer­t. Und Zeit ist wichtiger als Geld.

Damit Deutschlan­d kinder- und familienfr­eundlicher wird, muss sich auch in den Köpfen noch einiges tun. Teilzeitar­beit dürfte etwa nicht länger als Karrierekn­ick gelten, Homeoffice nicht länger als Alibi zum Wäschewasc­hen. Und Kinder sollten von Chefs nicht als Ausfallfak­tor, sondern als Fortbildun­g ihrer Mitarbeite­r in Organisati­on und Improvisat­ion gesehen werden. Jetzt schon ist zu beobachten: Die Vereinbark­eit von Beruf und Familie ist gerade jungen Menschen wichtiger geworden. Firmen sollten sich aus eigenem Interesse diesem Trend anpassen, um attraktive Arbeitgebe­r zu bleiben.

Und natürlich bräuchte es auch generell mehr Toleranz. Daher: Für alle, die genervt sind, wenn kleine Kinder einen Tobsuchtsa­nfall haben, nicht angepasst, ja, einfach Kinder sind: Freuen Sie sich doch einfach, denn Sie haben Glück. Was Sie da hören, ist ein kleines bisschen Zukunftsmu­sik.

Wo Kinder mehr von ihren arbeitende­n Eltern haben

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