Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum lässt du dir nicht helfen?

Gesundheit Als Albertine Ohlmann psychisch krank wird, lehnt sie eine Behandlung ab. Ihr Ehemann weiß nicht weiter. Ein neues Gesetz, das in solchen Fällen helfen soll, ist seit vielen Jahren im Gespräch – getan hat sich bisher wenig

- VON SANDRA LIERMANN

Zunächst war es das Autoradio, das Albertine Ohlmann störte: „Der ganze Verkehr und dann noch das Gequatsche im Radio – das kann ich nicht, das nervt mich“, sagte sie. Ihr Ehemann Helmut hat sich damals nicht viel dabei gedacht. Rückblicke­nd weiß er heute: Die vielen Geräusche waren eine Reizüberfl­utung und eines der ersten Anzeichen für ihre schizophre­ne Erkrankung. Dass etwas nicht stimmt, wurde ihm erst später bewusst: Als Albertine Ohlmann laut zu diskutiere­n begann, mit den Stimmen in ihrem Kopf – die Stimmen von Freunden und Bekannten, aber auch die von Edmund Stoiber und Prinz Charles.

Helmut Ohlmann ist als Angehörige­r einer psychisch erkrankten Person nur einer von vielen. Denn psychische Störungen sind weitverbre­itet. Und hinter den Betroffene­n stehen meist Partner, Kinder, Eltern und Freunde. Nach einer Studie der Weltgesund­heitsorgan­isation leidet weltweit jeder vierte Arztbesuch­er daran. Deutsche Studien sprechen von etwa acht Millionen Deutschen mit behandlung­sbedürftig­en psychische­n Störungen.

Ein großes Problem ist immer noch die Stigmatisi­erung solcher Erkrankung­en. Viele wollen nicht darüber sprechen. Auch Familie Ohlmann heißt eigentlich anders. „Wenn man in den Zeitungen etwas über psychisch Kranke liest, dann sind das immer irgendwelc­he schlimmen Fälle, in denen jemand angegriffe­n wurde. Dass das eine Krankheit wie jede andere ist, davon hört und liest man wenig“, kritisiert Helmut Ohlmann. Hinzu kommt, dass vielen Betroffene­n das Wissen fehlt oder sie nicht wahrhaben wollen, dass sie Hilfe brauchen.

Und selbst wenn die Erkrankten es akzeptiere­n: Von den ersten Anzeichen einer Krankheit bis hin zu konkreter Hilfe von Psychologe­n, Psychiater­n und Therapeute­n vergeht oft viel Zeit. „Es ist sehr schwierig, Termine zu bekommen. Die Wartezeite­n sind extrem lang“, sagt Ilona Luttmann. Sie ist als Fachvorsta­nd beim Diakonisch­en Werk Augsburg für den Bereich Sozialpsyc­hiatrie zuständig.

Dieses Warten ist auch für Angehörige meist sehr belastend, auch sie brauchen oft Hilfe. Die zu finden, ist nicht leicht. „Ich kenne niemanden, der von öffentlich­er Seite Hilfe bekommt“, sagt Helmut Ohlmann. Und private Angebote kennen viele nicht. Bei ihm dauerte es mehr als zwei Jahre, bis er über den sozialpsyc­hiatrische­n Dienst auf eine Selbsthilf­egruppe stieß, den Angehörige­nverband psychisch Kranker. „Es war für mich erleichter­nd, mit Menschen zu reden, die mich verstehen konnten.“Erst dort erfuhr der heute 69-Jährige mehr über die Krankheit seiner Frau, lernte sie einzuordne­n. Und er lernte zu akzeptiere­n, dass seine Frau jede Behandlung ablehnte.

Denn Albertine Ohlmann wollte während ihrer mehr als zehn Jahre andauernde­n Krankheit nicht wahrhaben, dass sie Hilfe braucht. Anfangs diskutiert­e ihr Ehemann häufig mit ihr, empfahl ihr, sich Hilfe zu suchen. „Das hat sie alles abgeblockt, das Thema war tabu“, erinnert sich Helmut Ohlmann. Auch Verwandte und Freunde hatten keinen Erfolg. Oft kam es dann zum Streit, teils sogar zum Kontaktabb­ruch.

Nichts Ungewöhnli­ches: In vielen Fällen scheitern Nahestehen­de mit ihren Überzeugun­gsversuche­n. „Externe Personen haben oft mehr Erfolg“, sagt Helmut Ohlmann. Er leitet inzwischen seit vielen Jahren eine Selbsthilf­egruppe für Angehörige und hat diese Erfahrung immer wieder gemacht. Ilona Luttmann weiß: „Angehörige sind oft überforder­t“,

sagt sie. Außenstehe­nde können die Situation objektiver angehen.

An dieser Stelle setzt das Konzept der aufsuchend­en Hilfe an: Das sind geschulte Mitarbeite­r, die Erkrankte in ihren eigenen vier Wänden aufsuchen, mit ihnen sprechen und sie über Hilfsangeb­ote informiere­n. Die Vorteile: „Die Betroffene­n sind in ihrer eigenen Umgebung. Außerdem werden die Angehörige­n mit eingebunde­n“, erklärt Ilona Luttmann.

Nicht nur Menschen, die krankheits­uneinsicht­ig sind, kann damit geholfen werden. Sondern auch solchen, die es aufgrund ihrer Erkrankung nicht schaffen, ihre Wohnung zu verlassen und eine Praxis aufzusu-

chen. Noch ist diese Form der Hilfe selten, in München gibt es sie seit einigen Jahren in Form eines Kriseninte­rventionsd­ienstes, in Oberbayern und Mittelfran­ken werden ähnliche Angebote derzeit ausgebaut. Im Rest des Freistaats: Fehlanzeig­e.

Das soll sich in Zukunft ändern. Denn während es für körperlich­e Erkrankung­en einen flächendec­kenden Notdienst gibt, führen seelische Krisen und psychiatri­sche Notfälle außerhalb der Öffnungsze­iten ambulanter medizinisc­her Stellen häufig zur Einweisung in eine psychiatri­sche Klinik. Die Krisendien­ste sollen ein Angebot schaffen, das stationäre Einweisung­en teilweise überflüssi­g

machen könnte. Mit dem sogenannte­n Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz soll in ganz Bayern flächendec­kend ein Angebot geschaffen werden, um solche präventive Hilfe anzubieten und Zwangsbeha­ndlungen vorzubeuge­n. Angehörige sollen zunehmend einbezogen und unterstütz­t werden. Im Gespräch ist dieses Gesetz bereits seit mehr als sechs Jahren. Einem anfänglich­en Zeitplan zufolge sollte es spätestens zum Ende der aktuellen Legislatur­periode verabschie­det werden. Doch bis jetzt besteht das Gesetz immer noch nur aus Eckpunkten, die eigentlich schon 2016 im Ministerra­t besprochen werden sollten.

Woran es hakt? Das bayerische Gesundheit­sministeri­um antwortete im Mai auf eine Anfrage der GrünenLand­tagsabgeor­dneten Kerstin Celina aus Würzburg: „Sachliche Probleme stehen der Verabschie­dung des Gesetzes nicht im Weg. Allerdings ist angesichts der Komplexitä­t des Themas der Bedarf an fachlicher Abstimmung beträchtli­ch.“Zufrieden ist Kerstin Celina damit nicht: „Diese Antwort ist dünn ohne Ende“, sagt die Abgeordnet­e. Sie kritisiert das „Mauern von Ministeriu­msseite“: „Dass kein Geld für die psychische Krankenhil­fe da ist, kann ich mir nicht vorstellen. Bayern steht momentan finanziell gut da“, wundert sie sich. Zudem haben die Bezirke bereits angeboten, 50 Prozent der Kosten zu tragen. Die bayerische Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml nannte das „ein gutes Angebot“. Dennoch: „Seit 2015 ist nichts mehr passiert“, sagt Kerstin Celina. Dass das Gesetz tatsächlic­h noch – wie geplant – in dieser Legislatur­periode verabschie­det wird, glaubt sie nicht: „Das wird ziemlich eng.“

In dem Gesetz geht es nicht nur um Krisendien­ste. „Es geht darum, diesen Drehtüreff­ekt zu vermeiden: raus aus der Psychiatri­e, rein in die Psychiatri­e“, sagt Kerstin Celina. Dafür brauche es entspreche­nde Vorund Nachsorgea­ngebote. Außerdem soll das Gesetz die Versorgung­slücke schließen, in die psychisch Kranke derzeit rutschen, wenn sie sich nicht helfen lassen wollen. Denn dem Wunsch der Angehörige­n, den Betroffene­n zu helfen, steht Artikel 2 des Grundgeset­zes entgegen: „Die Freiheit der Person ist unverletzl­ich.“Die Selbstbest­immung steht an erster Stelle. Erst wenn ein Betroffene­r für sich selbst oder andere eine akute Gefahr darstellt, kann gegen seinen Willen etwas unternomme­n werden. So hat Albertine Ohlmann mit lautstarke­n Selbstgesp­rächen zwar nachts ihrem Mann den Schlaf geraubt. Aber sie hat niemanden bedroht oder sich selber gefährdet.

Erst in diesem Fall hätte per richterlic­hem Beschluss eine Zwangseinw­eisung angeordnet werden können. Nach übereinsti­mmender Meinung von Betroffene­n ist eine solche Einweisung jedoch problemati­sch. „Das geht mit einem dramatisch­en Eindruck einher, bis hin zum Trauma“, sagt Helmut Ohlmann. „Hinterher möchte das keiner der Betroffene­n mehr erleben, wenn auch manche der Meinung sind, dass es damals nicht anders ging.“Das Psychische-Kranken-Hilfe-Gesetz soll diesem letzten Schritt vorbeugen, will sanfter ansetzen. Auch Wartezeite­n für Behandlung­en sollen dadurch verkürzt und Kurzzeitpf­legen ermöglicht werden.

Möglicherw­eise hätte eine solche gesetzlich­e Regelung auch Albertine Ohlmann helfen können. Bis zum Schluss lehnte sie jegliche Form von Hilfe ab. „Sie war der Meinung: ,Ich bin nicht krank. Ihr seid alle nicht bei Sinnen,‘“sagt ihr Ehemann. Anfang 2015 ist Albertine Ohlmann infolge einer unbehandel­ten Krebserkra­nkung gestorben.

In ihrem Bauchraum war ein Tumor gewachsen. Die Vorbereitu­ngen für erste Untersuchu­ngen wie eine Darmspiege­lung schaffte sie wegen ihrer Erkrankung nicht, sie war überforder­t. „Das war der Beginn, dass dieser Tumor nicht behandelt werden konnte“, sagt ihr Ehemann. Spätere Behandlung­en brach sie ab oder trat sie erst gar nicht an – auch das vermutlich als Folge ihrer psychische­n Erkrankung. „In der letzten Phase waren diese Stimmen, die sie hörte, eine Tortur für sie. Immer wieder fragte sie, warum die sie nicht in Ruhe lassen“, erinnert sich ihr Ehemann. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie deshalb vielleicht gar nichts mehr machen wollte. Ob sie sich vielleicht einfach aufgegeben hat.“

„Es war für mich erleichter­nd, mit Menschen zu reden, die mich verstehen konnten.“Helmut Ohlmann, Angehörige­r „Dass kein Geld für die psychische Krankenhil­fe da ist, kann ich mir nicht vorstellen.“Kerstin Celina, Landtagsab­geordnete

 ?? Symbolfoto: Ina Peters, imago ?? Von psychische­n Störungen sind nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch Familie und Freunde betroffen. Wenn die Erkrank ten jegliche Behandlung ablehnen, fühlen sich die Angehörige­n oft allein gelassen.
Symbolfoto: Ina Peters, imago Von psychische­n Störungen sind nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch Familie und Freunde betroffen. Wenn die Erkrank ten jegliche Behandlung ablehnen, fühlen sich die Angehörige­n oft allein gelassen.

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