Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kinder haben Grenzen
Ratgeber Familientherapeut Jesper Juul erklärt, wie Eltern damit umgehen sollten und warum Integrität wichtig ist
Integrität ist ein alter Begriff. Früher haben wir meist über moralische Integrität gesprochen. Einem Menschen, der so handelte, wie er redete, hat man in unserer Gesellschaft immer Respekt entgegengebracht. Doch Integrität umfasst auch noch etwas ganz anderes – sie beinhaltet die Übereinstimmung unserer persönlichen Grenzen, Bedürfnisse, Gefühle und so weiter mit unserem Tun und Handeln. Wir reden in den letzten zehn Jahren viel über das Grenzensetzen gegenüber Kindern, und es gibt die entsprechenden Bücher wie „Kinder brauchen Grenzen“– als wäre es das Wichtigste für Kinder und ihr Wohlbefinden, dass Erwachsene ihnen Grenzen setzen. Ich denke, die meisten von uns wissen: Es gibt keine Grenzen, die Kinder brauchen – das ist völliger Quatsch. Wenn die Leute Grenzen sagen, meinen sie Regeln. Man kann sagen: „Diese Regeln gibt es bei uns, so essen wir, so schlafen wir, so machen wir dieses und jenes. Im Haus laufen wir nicht mit Schuhen rum“, und so weiter. Das hat aber nichts mit Grenzen zu tun – das sind Regeln.
Worüber wir eigentlich reden sollten, ist die Tatsache, dass Kinder Grenzen haben. Kinder haben von Geburt an persönliche Grenzen – wie gehen wir mit diesen Grenzen um? Unsere Geschichte (unsere Erziehungsgeschichte und Pädagogikgeschichte) ist sehr traurig. Wir haben die Grenzen von Kindern jahrzehnte- und jahrhundertelang nicht wahrgenommen, wir haben sie verletzt und ignoriert. Heute beginnen wir, anzuerkennen, dass Kinder tatsächlich Grenzen haben, und wir beginnen, darüber nachzudenken, wie wir damit umgehen. Eine Menge von dem, was wir unter Erziehung verstehen, verletzt die Grenzen von Kindern und kränkt sie. Wollen wir das, ist das wirklich notwendig, brauchen Kinder wirklich Kränkung? Oder sollten wir uns damit beschäftigen, wie wir mit Kindern umgehen können, dass wir ihre Grenzen nicht verletzen? Dann verletzen die Kinder auch nicht unsere Grenzen – wir wissen ja, Kinder kooperieren. ( …) Ja, wir verletzen noch immer täglich die Grenzen von Kindern, und trotzdem haben wir langsam ein neues Bild aufgebaut – wir versuchen, kinderfreundlich zu sein, wie wir es nennen. Wir versuchen, Kinder auf eine andere Art und Weise zu lieben und zu erziehen als früher, und das ist wunderbar. Das heißt allerdings nicht, dass es uns schon gelungen ist. (
Ich möchte ein Beispiel nennen: Wir oder die meisten von uns sind so für unsere Kinder engagiert, dass wir ihnen auf keinen Fall wehtun wollen. Wir wollen ihre Grenzen nicht verletzen, wir wollen unbedingt all ihre Bedürfnisse befriedigen und so weiter. Das hat zu einem temporären Missverständnis geführt. Es gibt heute viele Eltern, die den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen nicht mehr kennen. Um sicherzugehen, geben diese Eltern ihren Kindern alles, was diese sich wünschen – doch ausgerechnet das, was die Kinder brauchen, bekommen sie nicht. Das ist ein Problem, und viele Leute über sechzig kritisieren das heftig. Ich denke, man sollte das nicht tun, denn das sind alles notwendige Experimente. Wenn wir eine neue Art von Erziehung entwickeln wollen, müssen wir dabei auch Fehler machen. Die Kinder werden das überleben. Wir haben alle überlebt, und wir sind mehr oder weniger in guter Form. Das heißt, man sollte keine Ängste haben – aber man kann natürlich ein bisschen vorsichtig sein.