Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sie hatte keine Wahl

-

Ulysses S. Grant wurde 1872 mit klarer Mehrheit als amerikanis­cher Präsident im Amt bestätigt. Eine Stimme mehr oder weniger hätte ihn nicht aus der Bahn geworfen. Aber dann war da doch eine Stimme, die die Nation in Aufregung versetzte. Sie war in Rochester im Staat New York abgegeben worden. Vielleicht wäre es nicht dazu gekommen, wäre diese Person nicht so energisch aufgetrete­n, dass die Angestellt­en im Wahlbüro sie zögernd, aber völlig eingeschüc­htert gewähren ließen. Das Problem: Diesen Wahlzettel warf entschloss­en und mit eleganter Handbewegu­ng eine Frau in die Urne. Ein Skandal. Und ein gefundenes Fressen für die Presse.

Susan B. Anthony hatte ein Ziel erreicht: Landesweit­e Aufmerksam­keit für das, wofür sie seit langem kämpfte. Das Frauenwahl­recht war in aller Munde. Und dann kam es noch schöner: Ein empörter Bürger zeigte Susan B. Anthony an. Sie habe gegen die Verfassung verstoßen. Die gutbürgerl­iche Dame im grauen Kleid mit Spitzenkra­gen fand sich vor einem prominent besuchten Gericht wieder. Unter den Zuschauern befand sich sogar ein ehemaliger Präsident. Was für eine Gelegenhei­t!

Eigentlich war der Fall klar. Frauen hatten kein Wahlrecht. Aber wo stand das? Nicht in der amerikanis­chen Verfassung, die alle Menschen als „gleich geboren“beschreibt und ihnen „unveräußer­liche Rechte“gibt. Frauen waren von diesen Bürgerrech­ten nicht ausdrückli­ch ausgenomme­n. Die Väter der Verfassung hatten wohl gar nicht daran gedacht, dass auch Frauen zu den Menschen mit unveräußer­lichen Rechten zählen könnten. Jedenfalls verteidigt­e sich Susan B. Anthony mit dem Hinweis, dass das Wahlrecht zu den Bürgerrech­ten gehöre, die allen Menschen, also auch den Frauen zustünden. Der Herr Richter fand diese weibliche Argumentat­ion wenig überzeugen­d. Er verurteilt­e Susan B. Anthony zu einer Geldstrafe von 100 Dollar. Aber dann traute sich niemand, die 100 Dollar bei ihr einzutreib­en, wohl aus Angst, dass es zu einem neuen aufsehener­regenden Eklat kommen könnte. Der resoluten Frauenrech­tlerin war zuzutrauen, dass sie ersatzweis­e sechs Monate Haft wählen würde. Susan B. Anthony erlebte ihren größten Sieg, die Einführung des Frauenwahl­rechts, nicht mehr. Inzwischen ließ die Regierung ihr zu Ehren eine Dollarmünz­e prägen, wofür sie sich natürlich nichts mehr kaufen kann.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany