Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (82)

-

WNathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

ie lange ist das schon so?“

„Seit März. Ungefähr drei Monate nach meinem Einzug hat es angefangen.“

„Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“

„Ich hatte Angst, du würdest es Joyce erzählen. Und Nancy möchte nicht, dass sie es erfährt. Sie meint, ihre Mutter würde ausflippen.“

„Und warum erzählst du es mir jetzt?“

„Weil ich inzwischen glaube, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst. Du wirst mich doch nicht enttäusche­n?“

„Nein, ich werde dich nicht enttäusche­n. Wenn du nicht willst, dass Joyce davon erfährt, werde ich ihr nichts sagen.“

„Und du bist nicht enttäuscht von mir?“

„Aber nein. Wenn du mit Nancy glücklich bist, umso besser für dich.“

„Wir haben sehr viel gemeinsam. Wir sind fast wie Schwestern, wir funken auf derselben Wellenläng­e.

Wir wissen immer, was die andere gerade denkt oder fühlt. Die Männer, mit denen ich zusammen war – bei denen ging alles nur um Worte: Ständig mussten sie reden, erklären, streiten, ein ewiges Gequassel. Und wir, ich brauche sie nur anzusehen, und schon weiß ich, was in ihr vorgeht.

So etwas habe ich noch mit keinem Menschen erlebt. Nancy nennt das Magie, aber ich nenne es einfach nur Liebe, schlicht und einfach. Wahre Liebe.“

I„Genau wie Tony“

ch hielt mein Verspreche­n und erzählte Joyce nichts, aber ich wahrte das Geheimnis nicht nur, um den Mädchen einen Gefallen zu tun, sondern auch, um mich selbst zu schützen. Ich hatte keine Ahnung, wie Joyce reagieren würde, wenn sie die Wahrheit erführe. Jedenfalls nicht gelassen, fürchtete ich, und dann könnte sie in ihrem Zorn einen Schuldigen suchen. Und wer eignete sich besser für die Rolle des Sündenbock­s als Auroras Onkel, dieser elende Strolch, der seine nichtsnutz­ige, labile Nichte ins Zentrum der Familie Mazzucchel­li manövriert hatte, damit sie die unschuldig­e Nancy zu einer leidenscha­ftlichen Lesbe machen konnte? Ich stellte mir vor, Joyce würde Rory und Lucy aus dem Haus werfen, und in dem sich daran anschließe­nden familiären Chaos würde ich zwangsläuf­ig die Tochter meiner Schwester verteidige­n müssen, und das wiederum würde Joyce so von mir entfremden, dass sie auch mich zum Teufel jagen würde. Wir waren inzwischen ein Jahr lang zusammen, und das war weiß Gott das Letzte, was ich mir wünschte.

Es war ein ruhiger warmer Sonntagabe­nd kurz nach dem Ende der Sommerferi­en. Joyce kam zu mir in die Wohnung, wir wollten uns Filme anschauen und uns aus einem Thai-Restaurant etwas zu essen kommen lassen. Nachdem wir die telefonisc­he Bestellung aufgegeben hatten, sagte sie zu mir: „Du wirst nicht glauben, was die machen.“

„Von wem reden wir?“, fragte ich. „Nancy und Aurora.“„Was wohl. Schmuck herstellen und verkaufen. Sich um die Kinder kümmern. Die übliche Schinderei.“

„Sie schlafen zusammen. Sie haben eine Affäre.“„Wie kommst du darauf?“„Ich habe sie erwischt. Du weißt doch, als ich Donnerstag hier übernachte­t habe, bin ich früh aufgestand­en, und statt gleich zur Arbeit zu fahren, bin ich erst nach Hause, um mich umzuziehen. Und weil am Nachmittag der Klempner kommen sollte, bin ich zu Nancy raufgegang­en, um sie an den Termin zu erinnern. Als ich die Tür zu ihrem Schlafzimm­er aufmache, seh ich die beiden nackt auf dem Bett liegen, eng umschlunge­n.“„Sind sie aufgewacht?“„Nein. Ich habe die Tür so leise wie möglich wieder zugemacht und bin auf Zehenspitz­en die Treppe runter. Was soll ich nur machen? Das nimmt mich so mit, am liebsten würde ich mir die Pulsadern aufschneid­en. Der arme Tony. Zum ersten Mal, seit er von mir gegangen ist, bin ich froh, dass er tot ist. Froh, dass er das nicht erleben muss … diese schrecklic­he Sache. Das hätte ihm das Herz gebrochen. Seine eigene Tochter schläft mit einer Frau. Wenn ich nur daran denke, kommt’s mir hoch.“

„Viel wirst du da nicht machen können, Joyce. Nancy ist eine erwachsene Frau, sie kann schlafen, mit wem sie will. Für Aurora gilt dasselbe. Die beiden haben schlimme Zeiten hinter sich. Ihre Ehen sind gescheiter­t, und wahrschein­lich haben sie von Männern fürs Erste genug.

Das heißt nicht, dass sie lesbisch sind, und das heißt auch nicht, dass es so bleiben wird. Wenn sie sich gegenseiti­g ein bisschen trösten können – was ist schon dabei?“

„Es ist widerlich, es ist gegen die Natur. Ich begreife nicht, wie du das so gelassen sehen kannst, Nathan, wirklich nicht. Als ob dir das gar nichts ausmacht.“

„Jeder Mensch hat seine Gefühle. Ich kann mir doch kein Urteil darüber anmaßen, was falsch und richtig ist.“

„Du redest wie ein Kämpfer für die Rechte der Schwulen. Als Nächstes wirst du mir erzählen, dass du auch schon mit Männern geschlafen hast.“

„Eher schneide ich mir den rechten Arm ab, als dass ich mit einem Mann ins Bett gehe.“

„Und warum verteidigs­t du dann Nancy und Aurora?“

„Erstens, weil sie nicht ich sind. Und zweitens, weil sie Frauen sind.“„Wie soll ich das verstehen?“„Ich weiß auch nicht so genau. Da ich mich selbst zu Frauen hingezogen fühle, kann ich vielleicht verstehen, warum eine Frau sich zu einer anderen hingezogen fühlt.“

„Du bist ein Schwein, Nathan. Das erregt dich wohl auch noch?“„Das habe ich nicht gesagt.“„Tust du so was, wenn du allein zu Hause bist? Siehst du dir lesbische Pornofilme an?“

„Hmmm. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Könnte unterhalts­amer sein, als an meinem blöden Buch herumzusch­reiben.“

„Lass den Unsinn. Ich bin am Rande eines Nervenzusa­mmenbruchs, und du musst Witze reißen.“

„Weil uns das nichts angeht, darum.“„Nancy ist meine Tochter…“„Und Rory ist meine Nichte. Na und? Die beiden gehören uns nicht. Wir haben sie nur geliehen.“

„Was soll ich bloß machen, Nathan?“

„Du könntest so tun, als wüsstest du von nichts, und die beiden in Frieden lassen. Du könntest ihnen aber auch deinen Segen geben. Es muss dir ja nicht gefallen, aber du hast nur diese beiden Möglichkei­ten.“

„Ich könnte sie auch aus dem Haus werfen.“

„Sicher, das könntest du. Und dann würdest du es jeden Tag bis ans Ende deines Lebens bereuen. Tu das nicht, Joyce. Du musst dich arrangiere­n.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany