Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Künstler in der Familie
Seit einiger Zeit können wir in der Familie jene Graffiti-Beseitiger gut verstehen, die in den Innenstädten mit Farbe auf Backsteinwänden und Fassaden kämpfen.
Stück für Stück tauchen in unserer Wohnung kleine, ähnlich wilde Malereien auf. Sie zieren Abschnitte der Raufaser-Tapete, finden sich in expressionistischen Zacken auf Schrankwänden, Stuhllehnen und dem Bett. Himmelblaue Kreise und Wolken haben sich auf das Parkett gelegt. Die künstlerischen Ambitionen beschränken sich nicht auf Oberflächen. Sie finden Eingang in Zeitungsseiten, zieren Briefe, Dokumente und haben Max Webers Büchlein „Politik als Beruf“erobert – locker und nach einer eigenen Logik über die Wohnung verstreut wie die Höhlenmalereien in der Grotte von Lascaux.
Jetzt können wir uns nicht mit jeder der spontanen Zeichnungen anfreunden. Die Werke zu beseitigen, stellt sich allerdings als nicht so einfach dar. Was hier verwendet wird, ist keine Naturfarbe, sondern eher chemischen Ursprungs. Sie haftet fest und gut. Wasser hilft kaum. Wasser und Scheuermilch besser. Die besten Ergebnisse bringt bisher ein Radiergummi – auch, wenn sicher irgendwann die Gefahr droht, dass mit all dem Radieren auch die Wandfarbe von der Tapete abgetragen wird, der Radierer die Tapete dünn wie Pergamentpapier schmirgelt und in Max Webers Büchlein mit den wilden Zeichnungen auch die Druckbuchstaben verblassen. So bleibt alle Beseitigung ein Kompromiss. Die meisten Werke fallen dem Wochenendputz zum Opfer, manche Zeichnung wird uns aber noch nach Jahren auf der Unterseite einiger Stühle oder zwischen den Buchseiten überraschen.
Der Urheber der Malereien war übrigens schnell gefunden. Unser Sohn, fast 2, hat seine Buntstifte entdeckt.