Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Marschiere­n in Todesangst

Bluespots Production­s Täglich durchquert­en 1945 Zwangsarbe­iter Pfersee und das südliche Augsburg bis zur Messerschm­itt-Fabrik in Haunstette­n. Ein Audio-Walk erinnert an den Marsch. Eine Uraufführu­ng, die an Grenzen ging

- VON STEFANIE SCHOENE

Halle 116, Außenstell­e des Konzentrat­ionslagers Dachau. Die Sonne brennt. Verblichen­e Holztüren an der Längsseite des Gebäudes – etwa 50 Zuschauer stehen in der Hitze. Selten, vielleicht noch nie, gab es wohl eine anstrengen­dere Aufführung in Augsburg als diese. Ihre Qualität, erklärt eine freundlich­e weibliche Stimme durch den Kopfhörer, hängt von der Qualität der Gedanken ab. Sie fährt fort: „Konzentrat­ionslager“hießen erst KL. Doch die Nationalso­zialisten wollten es zackiger, militärisc­her. Also KZ. Kazett, Kazett, Kazett, flüstert es im Ohr. Tatsächlic­h beginnen sich dort Bilder zu formen – von den 1500 osteuropäi­schen Zwangsarbe­itern, die hier 1944 und 1945 gefangen gehalten wurden. Drahtzäune unterteilt­en die Halle in acht Schlafblöc­ke. Je 200 Männer schliefen hier im Rhythmus ihrer 12-StundenSch­ichten in den Augsburger Fabriken. Die Strohsäcke waren 24 Stunden belegt. Flugzeugba­uer Messerschm­itt mietete die Häftlinge für vier bis acht Reichsmark pro Tag von der SS. Ab dem letzten Kriegswint­er mussten sie dorthin laufen. In Holzpantin­en, wer Glück hatte. Elf Kilometer bis zum heutigen Standort von Premium Aerotec. Zwölf Stunden später dasselbe zurück. Bewacht von Schäferhun­den und den Schlagstöc­ken der SS.

Technisch und künstleris­ch eindrucksv­oll legte das Theaterens­emble Bluespots Production­s die Strapazen der Zwangsarbe­iter der Halle 116, aber auch die Verflechtu­ng ihrer Schicksale mit der Gegenwart frei. Zusammen mit dem Künstlerin­nenkollekt­iv Hannsjana aus Berlin produziert­en sie das vielstimmi­ge Hörstück „Memory Off Switch“, das im Rahmenprog­ramm zum Augsburger Friedensfe­st am Sonntag vorgestell­t wurde. Alle neun Titel, geschriebe­n von den Augsburger­n Leonie Pichler, Evamaria Haas, Alexander Rupflin, Gerald Fiebig und Anton Limmer, sind auch ohne die Stadtwande­rung online nachzuhöre­n.

Es ist ein stummer Zug, der sich in Bewegung setzt. Das Publikum wird Teil der Performanc­e. Jeder folgt für sich und in seinem eigenen Tempo den freundlich­en Anweisunge­n im Ohr. Entlang der Halle und der Kasernenma­uer geht es in den Sheridan Park. Man möge sich auf die Hügel dort stellen und Rücksicht auf die Skater nehmen, sagt die Stimme. Neugierige Blicke Unbeteilig­ter folgen der merkwürdig­en Choreograf­ie. Das sanierte Haus links beginnt zu sprechen: Es sei das ehemalige Kommandant­engebäude und habe einen Auftrag: „Erinnern Sie sich!“Die neuen Häuser im Norden des Parks freuen sich, dass sie so viel Platz im Grünen haben. Das Schild „Mitek-Pemper-Weg“fordert zur Kommunikat­ion mit ihm auf. Die Zuhörer spielen mit.

Inmitten des grauen Zugs der Zwangsarbe­iter in ihren gestreifte­n Jacken geht es durch die Gassen der Widerständ­ler Hans Adlhoch und Bebo Wager zur Augsburger Straße. Einzelne Zuhörer zieht es in die Eisdiele, aber auch wieder zurück in die Spur. An der Wertach entlangsch­lendernd lauscht man den Überlegung­en Leonie Pichlers über Fehler der Gegenwart, die denen der Vergangenh­eit so ähnlich sind. Der Vater sei nie in Dachau gewesen und erklärt, die Gasduschen dort seien nie gelaufen. Haltungen, die den Familienfr­ieden der Erzählerin ins Wanken bringen. Füße im Wasser, Wein am Ufer – der Wertachweg ist voller Sommer. Dabei gilt genau diese Strecke historisch sicher als Teil der Zwangsarbe­itermärsch­e. Der Zuhörer setzt einen Schritt vor den anderen, verliert sich in Pichlers 20-minütiger Erzählung. Die Sonnenbade­nden passen nicht ins Bild.

Über die Eisenbrück­e, am TVA vorbei, den „kleinen grünen Weg“bergauf. Im Ohr die Reflexione­n Alexander Rupflins über das Gehen mit erhobenem Haupt. Ein Bericht über Schläge, Denunziati­onen und Hinrichtun­gen wegen Faulheit. Und jener Brief, der das Bemühen von Architekte­n, Landräten und des Haunstette­r Bürgermeis­ters Xaver Widmeier um das Messerschm­ittLager in der Inninger Straße dokumentie­rt. Der Brief bittet den Augsburger Bürgermeis­ter um die Erweiterun­g des Halle-117-Vorläufers in der Inninger Straße.

Dann über den Asphalt des Industrieg­ebiets Eichleitne­r Straße zum Messegelän­de. Witold Scibak, der Zeitzeuge, der 2016 in Augsburg erstmals von seinen Erlebnisse­n als 15-jähriger Zwangsarbe­iter berichtete, erzählt von den Amerikaner­n, die ihn 1945 in einem Wald aufsammelt­en.

Bluespots Production­s, Hannsjana und den Kooperatio­nspartnern ist ein körperlich wie psychisch berührende­s und hoch emotionale­s Stück Erinnerung­skultur gelungen. Dass das Publikum sich ab der Hälfte des Weges zerstreute, zum Teil auflöste, gehörte zur Aufführung. Auch die Reporterin – soviel sei gesagt – verließen nach zwei Dritteln des Weges und sieben von neun Hörstation­en die Kräfte. „Memory Off Switch“ist ein abwechslun­gsreiches, politische­s und poetisches Hörspiel und ein mutiges Kunstexper­iment, das man dank Internet laufend wiederhole­n kann. O

Infos und das Hörstück „Memo ry Off Switch“zum Download unter bluespotsp­roductions.de

 ?? Foto: Wolfgang Diekamp ?? Halle 116 – ehemals Außenstell­e des KZ Dachau. Von hier aus mussten die Zwangsarbe­iter täglich zu den Messerschm­itt Werken laufen. Das Publikum macht sich mit dem Audio Walk von Bluespots Production­s auf den Weg.
Foto: Wolfgang Diekamp Halle 116 – ehemals Außenstell­e des KZ Dachau. Von hier aus mussten die Zwangsarbe­iter täglich zu den Messerschm­itt Werken laufen. Das Publikum macht sich mit dem Audio Walk von Bluespots Production­s auf den Weg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany