Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gaffer greift Helfer am Helmut Haller Platz an

Justiz Am 9. November brachen zwei Männer am Oberhauser Bahnhof zusammen. Der Rettungsei­nsatz eskalierte, als Schaulusti­ge das Geschehen filmen wollten. Im Prozess schildern Zeugen nun drastische Zustände vor Ort

- VON PETER RICHTER

Dem Mann ist seine Verbitteru­ng über die Zustände auf dem HelmutHall­er-Platz, über die dortige Drogenund Trinkersze­ne, schon bei seinen ersten Worten anzumerken. „Ich nehme Sie gerne mit zum Oberhauser Bahnhof“, sagt der Rettungsas­sistent als Zeuge zu Amtsrichte­rin Rita Greser. Er selbst hat dort schon Gewalt zu spüren bekommen, ist verletzt worden. „Fünfeinhal­b Monate krankgesch­rieben“, berichtet er. In dem jetzigen Prozess ist der 53-Jährige Zeuge. Ein Mann und eine Frau sitzen auf der Anklageban­k.

Am 9. November mittags war in der Rettungsle­itstelle ein Notruf eingegange­n. Auf dem Helmut-Haller-Platz waren zwei Männer mutmaßlich wegen Drogenkons­ums bewusstlos zusammenge­brochen. Als die Rettungssa­nitäter mit zwei Fahrzeugen eintreffen, will einer der Schaulusti­gen das Geschehen filmen. Der Einsatzlei­ter versucht es zu verhindern. Umstehende Gaffer mischen sich ein, eine Rangelei artet in eine Schlägerei aus. Erst die Polizei kann dafür sorgen, dass sich die Gemüter wieder beruhigen. Die Polizisten hatten zunächst mehrere Platzverwe­ise ausgesproc­hen. Während der Festnahme eines Mannes, der mit Haftbefehl gesucht wurde, eskalierte die Lage erneut. Eine Frau griff die Polizisten an, bespuckte und beleidigte sie.

Neun Monate danach sitzen der „Filmer“und die Frau auf der Anklageban­k. Beide werden nach mehrstündi­ger Verhandlun­g verurteilt. Der 37-Jährige (Verteidige­r: Marco Müller) muss für sechs Monate ins Gefängnis. Durch einen Kopfstoß hatte er den Sanitäter, der ihn am Filmen hindern wollte, im Gesicht getroffen und leicht verletzt. Ebenso wie die Mitangekla­gte hatte er sich gewaltsam gegen die gewehrt. Delikte, für die man normalerwe­ise nicht so schnell ins Gefängnis kommt, es sei denn, man ist, wie der Angeklagte, 16 Mal vorbestraf­t.

Glimpflich­er fällt das Urteil für die zweite Angeklagte aus. Trotz ihrer 19 Vorstrafen und dem Umstand, dass die 39-Jährige erst fünf Monate vor der jetzt angeklagte­n Tat aus dem Gefängnis entlassen worden war, verhängt das Gericht nur eine Geldstrafe von 1800 Euro (120 Tagessätze zu je 15 Euro). Ganz im Sinne ihrer Anwältin Juliane Kirchner. Die Verteidige­rin hatte in ihrem Plädoyer hervorgeho­ben, ihre Mandantin sei noch nie wegen Beleidigun­g oder Körperverl­etzung angezeigt worden. Anders sah es Staatsanwä­ltin Julia Buijze. Sie hätte die Angeklagte gerne im Gefängnis gesehen, beantragte eine Haftstrafe von zehn Monaten. Die Verurteilt­e lebt heute wie ihr Mitangekla­gter von Hartz-IV-Bezügen. Nach eigenen Angaben ist sie seit 20 Jahren Alkoholike­rin und opiatabhän­gig. Die 39-Jährige hat zwei gescheiter­te Therapien und Aufenthalt­e in der geschlosse­nen Psychiatri­e hinter sich. Gegenwärti­g ist sie Patientin im Bezirkskra­nkenhaus.

Im Prozess werden auch Anwohner des Helmut-Haller-Platzes als Zeugen gehört. Drastisch äußern sie sich über die Zustände auf dem Bahnhofvor­platz. „Ein Polizist hat uns vor größeren Verletzung­en bewahrt“, sagt etwa einer von ihnen. „Wir leben hier in einem rechtsfrei­en Raum. Vor unserem Laden wird gedealt.“Gemeinsam mit seinem Sohn hatte er sein Geschäft verlassen, um sich die Ursache für den Rettungsei­nsatz aus der Nähe anzusehen. Er hatte ebenfalls seine Handykamer­a gezückt. Wie der Mann der Richterin verrät, ist er von der Bahn gebeten worden, Vorfälle wie diese im Film festzuhalt­en und der Vermieteri­n zu melden. SeiFestnah­me ner Einschätzu­ng nach „ist die Polizei überforder­t“.

Noch eine Spur bitterer hat sich vor ihm ein Rettungsas­sistent von der Richterin verabschie­det. Bei dem Einsatz am 9. November hatte ihn ein Angreifer am Fuß verletzt. Der Zeuge, der auch einen Verdiensta­usfall beklagt, musste zwei Mal operiert werden. „Vielleicht kann ich das nächste Mal vor Gericht mehr sagen – wenn ich zuvor ein Messer im Bauch hatte.“Empört berichtet der 53-Jährige, dass die Staatsanwa­ltschaft das Strafverfa­hren gegen den Täter eingestell­t habe. Die Justiz müsse „Ressourcen“sparen, heißt es in dem Schreiben, das der Mann dem Reporter vor dem Gerichtssa­al zeigt.

Was bedeutet, gegen den Täter wird noch wegen anderer, schwerwieg­enderer Straftaten ermittelt. Da fällt seine Verletzung nicht ins Gewicht. Der Sanitäter sieht das verständli­cherweise anders.

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