Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wenn man seinen Sinnen nicht mehr trauen kann

Museum In Schwabmünc­hen tauchen Besucher in eine dunkle Welt ein. Sind blinde Menschen im Vorteil?

- VON MATTHIAS SCHALLA

Schwabmünc­hen Der Fühl- und Tastsinn des Menschen ist ein wesentlich­er Faktor für die Eigenwahrn­ehmung. „Bereits nach sieben Wochen ist er im Mutterleib ausgebilde­t“, sagt Sabine Sünwoldt, die Leiterin des Museums in Schwabmünc­hen. Hunderte von Millionen Tastsinnze­llen auf der Haut ermögliche­n es dem Menschen, die Reize aus der Umwelt zu verarbeite­n. Dennoch nimmt er in der Rangfolge der Sinne einen eher untergeord­neten Platz ein. Und genau dies will die neue Ausstellun­g „fühlmal“ändern.

Sehende tauchen im Dunkelparc­ours in eine fremde Welt ein, trauen im schiefen Zimmer ihren Augen nicht oder spüren, wie sich Schallwell­en anfühlen. Doch wie finden sich blinde Menschen in einer Ausstellun­g zurecht, die vor allem für den Tast- und optischen Sinn Sehender konzipiert ist? Alfred Schwegler, der Bezirksgru­ppenleiter des Bayerische­n Blinden- und Sehbehinde­rtenbunds, ist seit 36 Jahren blind und hat jetzt die Ausstellun­g mit seiner Frau Gerlinde besucht. Und das Ergebnis ist teilweise mehr als überrasche­nd.

● Schiefes Zimmer: Sabine Sünwoldt hat den Beiden vorher erklärt, was sich in dem „Schiefen Zimmer“verbirgt. „Es ist eigentlich ein ganz normaler Raum mit geraden Wänden und rechten Winkeln“, sagt sie. Allerdings sei das ganze Objekt um 20 Grad gekippt worden. Dies bewirke, dass es den meisten Menschen in diesem Zimmer schwindlig wird. Dabei liege es nicht an der Steigung des schiefen Bodens, sondern daran, dass Seh- und Fühlsinn und das im Innenohr gelegene Gleichgewi­chtsorgan nicht zusammensp­ielen.

Forschen Schrittes geht Gerlinde Schwegler nach diesen Erklärunge­n die schmale Rampe hoch ins „schiefe Zimmer“. Ein vorsichtig­er Blick um die Ecke – und schon zuckt die rechte Hand zur Türkante. Ihr Mann Alfred muss schmunzeln. „Ich weiß gar nicht, was Du hast“, sagt er. Der 61-Jährige hat keinerlei Probleme im „schiefen Zimmer“. Es sei zwar ein bisschen steil, aber Schwindel verspüre er keinen. Zum Beweis lupft er seinen linken Fuß, steht für kurze Zeit nur auf einem Mit beiden Beinen hingegen kann gerade mal seine Frau das Gleichgewi­cht halten. Immer wieder sucht sie Halt an der Wand. Kopfschütt­elnd verlässt sie den Raum, es geht weiter zur nächsten Station.

● Fühlparcou­rs Hier werden Objekte gesehen und befühlt, bei denen erst der Tastsinn die eindeutige Identifizi­erung ermöglicht. Schnell gaukelt das Gehirn einem falsche Informatio­nen vor. So müsste ein nicht sehender Mensch eigentlich im Vorteil sein. Doch das Ergebnis mit der Gewichtssc­hätzung zweier aufeinande­rliegender und unterschie­dlich dicker Holzklötzc­hen überrascht. So erwartet das Gehirn, dass der größere Klotz schwerer sein muss, als der kleinere. Tatsächlic­h aber enthält der kleine Teil fast die gesamte Masse der beiden Klötzchen. Alfred Schwegler lässt sich Zeit, befühlt die beiden Klötzchen ganz genau und wiegt sie in der Hand. Dann fällt sein Urteil. „Der kleine Klotz ist schwerer, als beide zusammen“, sagt er. Falsch! Trotz fehlenden Sehvermöge­ns hat ihm hier der Tastsinn ebenso wie seiner Frau einen Streich gespielt.

Souveräner aber zeigt sich der 61-Jährige beim Fühl-Memory. Binnen weniger Minuten hat er die passenden Paare erfühlt und zugeordnet. Die Nase vorn hat aber seine Frau wiederum bei einigen Fühlsäckch­en. Hier gilt es, Gegenständ­e nur über den Tastsinn zu erraten. In einem Säckchen hat Sünwoldt beispielsw­eise verschiede­ne EuromünBei­n. zen verpackt. Schwegler konzentrie­rt sich auf die Größe – und liegt mit dem Ergebnis falsch. Er hat es im Gegensatz zu seiner Frau versäumt, den Rand genau zu befühlen. Doch nun wartet der Dunkelparc­ours auf das Ehepaar.

● Dunkelparc­ours Im vollkommen dunklen Labyrinth gehen die Besucher auf unterschie­dlichen Bodenbeläg­en und befühlen etliche Objekte, die an der Wand und auf Sockeln montiert sind. Schwegler hat keinerlei Probleme, sich in der Finsternis zurechtzuf­inden. Seine Frau hingegen hat mit Beklemmung­en zu kämpfen. „Sie sind zu schnell, Herr Schwegler“, mahnt Sünwoldt, die mit einer Nachtsicht­brille den Marsch verfolgt und moderiert. Nach einer knappen halben Stunde ist der Parcours geschafft. Beide haben ungefähr gleich viel Gegenständ­e erraten. Beide sind von der Ausstellun­g begeistert. „Fantastisc­h, am beeindruck­endsten aber war für mich das schiefe Zimmer“, sagt Gerlinde Schwegler. Und für ihren Mann war der Raum „nur etwas komisch“. »Kommentar O

Öffnungsze­iten Das Museum in der Holzheystr­aße 12 hat geöffnet sonn tags von 10 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr, mittwochs von 14 bis 17 Uhr. Sabine Sünwoldt bietet auch ab dem 25. Sep tember Workshops für Schulen ab der 2. Klasse an. Voraussetz­ung ist, dass neben einer Lehrkraft eine zweite Auf sichtspers­on anwesend ist. Anmeldunge­n per Mail an: museum@schwabmuen­chnen.de.

 ?? Foto: Matthias Schalla ?? Gerlinde und Alfred Schwegler im „schiefen Zimmer“der neuen Ausstellun­g im Museum Schwabmünc­hen. Der 61 Jährige ist seit 36 Jahren blind und hat mit der Balance im Gegensatz zu seiner sehenden Frau keine Probleme.
Foto: Matthias Schalla Gerlinde und Alfred Schwegler im „schiefen Zimmer“der neuen Ausstellun­g im Museum Schwabmünc­hen. Der 61 Jährige ist seit 36 Jahren blind und hat mit der Balance im Gegensatz zu seiner sehenden Frau keine Probleme.

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