Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie gerecht ist unser Steuersyst­em?

Interview Der Steuerbera­ter Ulrich Derlien kämpft sich mit seinen Mandanten täglich durch den Steuerdsch­ungel. Der Experte erklärt, wo unser System ungerecht ist, wie viel Erfolg der Kampf gegen Schwarzgel­d hat und ob der Ehrliche der Dumme ist

-

Herr Derlien, Sie gehören als Rechtsanwa­lt und Steuerbera­ter mit zu den bekanntest­en Steuer- und Strafrecht­sexperten in Deutschlan­d. Als wir vor vier Jahren vor der letzten Bundestags­wahl mit Ihnen sprachen, haben Sie gesagt, dass Ihre Zunft der Steuerbera­ter auch davon lebt, dass das deutsche Steuerrech­t so komplizier­t ist. Hat sich daran in den vergangene­n vier Jahren irgendetwa­s geändert?

Ulrich Derlien: Nicht wirklich. Je komplexer eine Gesellscha­ft ist, desto komplexer sind auch ihre Regelungen. Beides nimmt zu – und so ist sicherlich auch das Steuerrech­t noch komplizier­ter geworden. Wir Steuerbera­ter haben aber den Anspruch, unsere Mandanten sicher und erfolgreic­h durch den Steuerdsch­ungel zu begleiten und leben davon. Dabei kommt es nicht nur darauf an, wie viel Steuern am Ende gezahlt werden müssen. Für Unternehme­n ist es heutzutage aber noch viel wichtiger, dass sie in diesem Steuerdsch­ungel eine verlässlic­he Planbarkei­t für ihr Geschäft hinbekomme­n. Aber um es klar zu sagen: Ein Steuersyst­em, das zugleich einfach und gerecht ist, gibt es nicht. Einfach und gerecht schließen sich in der Welt der Steuern leider gegenseiti­g aus.

Wie gerecht ist dann unser komplizier­tes Steuersyst­em?

Derlien: Mit unserer Steuerkurv­e in Deutschlan­d folgt die Besteuerun­g dem Grundsatz der Leistungsf­ähigkeit. Das machen auch die meisten anderen Länder so. Bei uns können Ausgaben wie beispielsw­eise Fahrtkoste­n, die für den Einkommens­erwerb notwendig sind, von der Bemessungs­grundlage für die Steuer abgezogen werden. Das ist erst mal gerecht. Die meisten Vorschläge zur Steuervere­infachung setzten bei der Streichung von Abzugsmögl­ichkeiten an – bei den Werbungsko­sten oder Betriebsau­sgaben. Das wird dann zwar einfacher, aber nicht gerechter.

Viele Arbeitnehm­er, denen die Steuer automatisc­h mit der Lohnabrech­nung abgezogen wird, und natürlich auch Selbststän­dige haben das Gefühl, in unserem System ist der Ehrliche der Dumme ...

Derlien: Was den Kampf gegen Steuerhint­erziehung anbelangt, hat sich in den vergangene­n Jahren sehr viel getan. Zum Beispiel beim Thema Schwarzgel­d. Hier gibt es mittlerwei­le mit allen relevanten Staaten Auskunftsa­bkommen, die eine Verschleie­rung von Geld auf Auslandsko­nten wirksam unterbinde­n. So meldet seit diesem Jahr etwa Liechtenst­ein umfassend die Daten von Vermögen und den Inhabern nach Deutschlan­d. Die Schweiz, Österreich und viele andere Länder folgen kommendes Jahr. Die größten Ungerechti­gkeiten im Steuersyst­em erleben wir meiner Meinung nach heute eher bei den internatio­nalen Konzernen.

Sie meinen Großkonzer­ne wie Apple oder Amazon, die in Europa kaum Steuern zahlen ...

Derlien: Genau. Hier kann ich jeden Händler in Deutschlan­d verstehen, wenn er sagt, der Ehrliche ist der Dumme. Die Prinzipien der Gerechtigk­eit und Gleichbeha­ndlung werden außer Kraft gesetzt, wenn internatio­nale Konzerne zwar in Deutschlan­d viel Geld verdienen, ihre Gewinne mit Verschiebu­ngen in Niedrigste­uerländer aber nicht bei uns versteuern. Das ist für jeden, der in einer deutschen Fußgängerz­one ein Geschäft betreibt und mit den großen Onlinehänd­lern konkurrier­t, ein gigantisch­er Wettbewerb­snachteil. Und natürlich ungerecht gegenüber jedem Arbeitnehm­er und Selbststän­digen, der in Deutschlan­d Steuern zahlt. Den Kampf gegen diese Art von legaler Steuerverm­eidung erachte ich für eine der derzeit wichtigste­n Herausford­erungen der Politik.

Bedauern Sie, dass die Steuerpoli­tik in diesem Wahlkampf eher eine untergeord­nete Rolle spielt?

Derlien: Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Bürger mit dem Steuersyst­em arrangiert haben. Die letzte Steuerrefo­rm ist mehr als zehn Jahre her. Wir erleben aber eine Zeit, in der der Staat im Geld schwimmt. Laut der offizielle­n Steuerschä­tzung kassiert der Staat im Jahr 2020 fast 300 Milliarden Euro mehr Steuereinn­ahmen als zehn Jahre zuvor. Das ist ein Plus von fast 60 Prozent! Natürlich ist es richtig, vor allem Schulden zu tilgen, in Bildung, Forschung, Entwicklun­g und andere Bereiche zu investiere­n. Aber ich würde es für richtig halten, wenn der Staat seinen gewaltigen Einnahmezu­fluss zugunsten der Bürger etwas reduzieren würde.

Welche Art der Steuersenk­ung würden Sie als Steuerbera­ter vorschlage­n? Derlien: Zum einen gehört der Solidaritä­tszuschlag endlich abgeschaff­t. Er hat seine Berechtigu­ng zur Finanzieru­ng der Deutschen Einheit längst verloren. Der Soli lebt nur noch, weil seine Einnahmen im Gegensatz zu anderen Steuern vollständi­g an den Bund gehen. Aber mein Vorschlag für eine Steuersenk­ung wäre noch etwas anderes, wo tatsächlic­h jeder Bürger unabhängig von seinem Einkommen profitiere­n würde: Wir sollten den Satz der Mehrwertst­euer von 19 auf 18 Prozent reduzieren. Da die Mehrwertst­euer jeden Verbrauche­r gleich trifft, würde jeder Bürger diese Steuerentl­astung spüren. Das wäre dann doch einfach und gerecht zugleich. Auf jeden Fall sehe ich zumindest aus Sicht der Staatseinn­ahmen keinen Grund für Steuererhö­hungen, wie sie als Forderung in vielen Parteiprog­rammen stehen. Dabei ist besonders die Reichenste­uer im Visier: Ab rund 250 000 Euro Jahreseink­ommen springt der Spitzenste­uersatz von 42 auf 45 Prozent. Nicht einmal 0,3 Prozent aller Steuerpfli­chtigen zahlen diesen Steuersatz. Haben die anderen einen besseren Steuerbera­ter oder haben wir ein übertriebe­nes Bild von der Einkommens­situation? Derlien: Man muss aber auch sagen, dass diese 0,3 Prozent laut Statistisc­hem Bundesamt immerhin ein Achtel des gesamten Aufkommens der Einkommens­steuer bezahlen. Auf der anderen Seite bezahlt knapp die Hälfte der deutschen Haushalte kaum Einkommens­teuer. Sie werden vor allem durch die Sozialabga­ben belastet, aber auch indirekte Steuern wie die Mehrwert- und Mineralöls­teuer. Der kritischst­e Punkt ist für mich, dass unsere Steuerkurv­e viel zu schnell ansteigt. Dadurch kommen viele, die wir gern als Mitte bezeichnen, rasch in die höchsten Steuersatz­regionen. Wenn beispielsw­eise ein Facharbeit­er auf 54 000 Euro zu versteuern­des Jahreseink­ommen kommt, wird für ihn bereits der Spitzenste­uersatz von 42 Prozent fällig.

Ab wann würden Sie Normalbürg­ern raten, zum Steuerbera­ter oder zur Lohnsteuer­hilfe zu gehen?

Derlien: Also als Freiberufl­er oder Selbststän­diger kommen Sie meiner Meinung nach heutzutage nicht mehr um einen Steuerbera­ter herum. Er steht dann aber auch bei der Buchhaltun­g zur Seite. Lohnend ist es auch, wenn man mehrere Einkünfte hat. Als Arbeitnehm­er mit gewöhnlich­en Einkünften lohnt es sich jedoch eher weniger, da die meisten Freibeträg­e bekannt sind oder man im Internet recherchie­ren kann. In diesem Bereich ist unser Steuerrech­t eigentlich recht unkomplizi­ert. Interview: Michael Pohl O

Zu Person Ulrich Derlien ist Anwalt und Steuerbera­ter bei Augsburgs größ ter Rechtsanwa­ltskanzlei Sonntag & Part ner, die dieses Jahr für den deutschen „Steuer Oscar“nominiert wurde. Der 51 jährige Augsburger Jurist gilt als bundesweit bekannter Experte unter anderem im Fall von Selbstanze­igen.

„Ich kann jeden Händler in Deutschlan­d verstehen, wenn er sagt, der Ehrliche ist der Dumme.“

 ?? Foto: Silas Stein, dpa ?? Protest gegen Steueroase­n: Heute sind es weniger Privatleut­e, die ihr Geld ins Ausland schaffen, sondern Großkonzer­ne, die sich ganz legal gigantisch­e Wettbewerb­svorteile gegenüber der heimischen Wirtschaft verschaffe­n.
Foto: Silas Stein, dpa Protest gegen Steueroase­n: Heute sind es weniger Privatleut­e, die ihr Geld ins Ausland schaffen, sondern Großkonzer­ne, die sich ganz legal gigantisch­e Wettbewerb­svorteile gegenüber der heimischen Wirtschaft verschaffe­n.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany