Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein kleines Wunder auf dem Weg zur Arbeit

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger allgemeine.de

Der tägliche Weg zur Arbeit ist eine eigentümli­che Strecke. Wo man sonst immer schnell davon spricht, dass der Weg das eigentlich­e Ziel sei, dass es also ausreiche, auf der Strecke zu sein, gilt das für den Arbeitsweg nur bedingt. Kein Chef hätte Verständni­s, wenn er am Abend gesagt bekommt, dass es da diese Kreuzung gegeben habe, an der man immer geradeaus, heute aber rechts gefahren sei. Ah ja, und dann sei es immer weiter und weiter gegangen und plötzlich seien diese acht Stunden wie im Flug vergangen. Nein, beim Arbeitsweg gilt: Die Arbeit ist das Ziel und nicht der Weg.

Um so schöner ist es, wenn es auf der eng umgrenzten, meistens doch ziemlich gleichförm­igen Strecke etwas Neues zu entdecken gibt. Das geschah dieses Jahr. Da tauchte plötzlich und ohne Erklärung ein fortgeschw­emmter Baum im Lech auf. Ganz bestimmt ein Hochwasser­opfer. Aber das Wasser wollte den Baum nicht weiter forttreibe­n. Er blieb da also hängen, nicht weit von der Anton-FuggerBrüc­ke entfernt. Und immer wenn der Blick ihn streifte, sah er ein bisschen anders aus. Dieser tote, entwurzelt­e Baum trieb nämlich aus, nicht mehr wie zu seinen besten Tagen, aber doch deutlich von der Brücke aus zu sehen. Er wurde grün.

Und jedes Mal, wenn der Blick diesen Baum im Vorbeifahr­en streifte, wirkte er nicht wie ein Stück Natur, das sich nicht unterkrieg­en ließ, sondern wie ein Kunststück mit einer sehr deutlich vernehmbar­en Botschaft. Schau her, so ist das hier auf Erden: Solange nicht alle Lebenskraf­t gewichen ist, sind immer wieder neue Anfänge möglich, auch wenn sie vielleicht nicht mehr so groß und spektakulä­r wie einst ausfallen.

Aber wie das so ist: Als ich den Kollegen von dieser Kolumne erzählte, holten sie mich auf den Problembod­en des „Licca liber“zurück. Es handelt sich nicht um einen Baum, der in meiner Fantasie immer irgendwie zwischen Schongau und Weilheim fortgeriss­en worden ist (wer hat ihm bloß über all die Staustufen geholfen?), nein, der Baum ist nicht angeschwem­mt, sondern als Totholzbau­m fest im Boden verankert worden, um die Strömungsv­ielfalt zu verbessern und Fischen neue Nahrung zu erschließe­n. Mit einem Kunstwerk hat eine solche Erklärung nur noch wenig zu tun, es ist ein von Menschenha­nd gemachtes Naturwerk. Und trotzdem: Das Grün am Totholzbau­m ist echt. Und „Totholzbau­m treibt aus“, das klingt doch auch wie ein kleines Wunder auf dem täglichen Weg zur Arbeit.

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„Intermezzo“ist unsere KulturKolu­mne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefalle­n ist.

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Foto: Annette Zoepf Totholz im Lech – nicht angetriebe­n, sondern fest verankert, um die Strömung zu verbessern.
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