Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ein kleines Wunder auf dem Weg zur Arbeit
Der tägliche Weg zur Arbeit ist eine eigentümliche Strecke. Wo man sonst immer schnell davon spricht, dass der Weg das eigentliche Ziel sei, dass es also ausreiche, auf der Strecke zu sein, gilt das für den Arbeitsweg nur bedingt. Kein Chef hätte Verständnis, wenn er am Abend gesagt bekommt, dass es da diese Kreuzung gegeben habe, an der man immer geradeaus, heute aber rechts gefahren sei. Ah ja, und dann sei es immer weiter und weiter gegangen und plötzlich seien diese acht Stunden wie im Flug vergangen. Nein, beim Arbeitsweg gilt: Die Arbeit ist das Ziel und nicht der Weg.
Um so schöner ist es, wenn es auf der eng umgrenzten, meistens doch ziemlich gleichförmigen Strecke etwas Neues zu entdecken gibt. Das geschah dieses Jahr. Da tauchte plötzlich und ohne Erklärung ein fortgeschwemmter Baum im Lech auf. Ganz bestimmt ein Hochwasseropfer. Aber das Wasser wollte den Baum nicht weiter forttreiben. Er blieb da also hängen, nicht weit von der Anton-FuggerBrücke entfernt. Und immer wenn der Blick ihn streifte, sah er ein bisschen anders aus. Dieser tote, entwurzelte Baum trieb nämlich aus, nicht mehr wie zu seinen besten Tagen, aber doch deutlich von der Brücke aus zu sehen. Er wurde grün.
Und jedes Mal, wenn der Blick diesen Baum im Vorbeifahren streifte, wirkte er nicht wie ein Stück Natur, das sich nicht unterkriegen ließ, sondern wie ein Kunststück mit einer sehr deutlich vernehmbaren Botschaft. Schau her, so ist das hier auf Erden: Solange nicht alle Lebenskraft gewichen ist, sind immer wieder neue Anfänge möglich, auch wenn sie vielleicht nicht mehr so groß und spektakulär wie einst ausfallen.
Aber wie das so ist: Als ich den Kollegen von dieser Kolumne erzählte, holten sie mich auf den Problemboden des „Licca liber“zurück. Es handelt sich nicht um einen Baum, der in meiner Fantasie immer irgendwie zwischen Schongau und Weilheim fortgerissen worden ist (wer hat ihm bloß über all die Staustufen geholfen?), nein, der Baum ist nicht angeschwemmt, sondern als Totholzbaum fest im Boden verankert worden, um die Strömungsvielfalt zu verbessern und Fischen neue Nahrung zu erschließen. Mit einem Kunstwerk hat eine solche Erklärung nur noch wenig zu tun, es ist ein von Menschenhand gemachtes Naturwerk. Und trotzdem: Das Grün am Totholzbaum ist echt. Und „Totholzbaum treibt aus“, das klingt doch auch wie ein kleines Wunder auf dem täglichen Weg zur Arbeit.
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„Intermezzo“ist unsere KulturKolumne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefallen ist.