Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Radfahreri­n, die einen Lkw Unfall überlebte

Tragödie Rosemarie Wirth wurde vor einem halben Jahr in der Jakobervor­stadt von einem Laster überfahren. Am Unfallort gab man ihr kaum eine Überlebens­chance. Wie sich die 50-Jährige zurückkämp­fte und was sie fordert

- VON INA KRESSE

Der 31. März 2017 ist ein sonniger Tag. Rosemarie Wirth fährt mit ihrem Rad daheim an der Kahnfahrt los. Sie ist mit einer Freundin im Parkhäusl im Siebentisc­hwald verabredet. Knapp fünf Monate später kommt sie das erste Mal wieder nach Hause zurück. Für immer gezeichnet. Die 50-Jährige wurde an dem Märztag kurz nach ihrem Aufbruch von einem Lkw überfahren. Der Fahrer übersah sie in der Jakobervor­stadt, als er abbog. Dass sie überlebte, gleicht einem Wunder. Die 29-jährige Radlerin, die diesen Dienstag in der Stadt von einem abbiegende­n Lkw erfasst wurde (wir berichtete­n), hatte keine Chance. Wirth nimmt dieser tödliche Unfall sehr mit. Eine Botschaft liegt ihr besonders am Herzen.

„Als ich von dem Unfall in dieser Woche hörte, habe ich nur noch geweint.“Sie weinte um die junge Frau. Weinte, weil sie selbst überlebt hat und alles wieder hochkam. Rosemarie Wirth sitzt an einem Tisch, ihre Krücken lehnen am Stuhl. Seit kurzem erst ist sie nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen. Die attraktive Frau mit dem blonden Pagenschni­tt kann inzwischen auf Krücken laufen, wenn auch langsam. Manchmal nimmt sie den Rollator. Wieder mobil zu sein, war ihr größtes Ziel in den vergangene­n Monaten, in denen sie zig Mal im Klinikum operiert wurde. Sie sagt von sich: „Ich schaue inzwischen aus wie ein Burda-Schnittmus­ter.“Ihr Galgenhumo­r klingt immer wieder durch. Anders geht es nicht. Anders ist der Albtraum nicht zu ertragen. Rosemarie Wirth hat überlebt, weil sie eine Kämpferin ist. Weil sie einen starken Willen hat, sagt sie. Und weil der Notarzt am Einsatzort und die Ärzte im Klinikum alles in ihrer Macht Stehende für sie taten. „Sie haben mein Leben gerettet.“

Neulich rief Wirth den Notarzt an. Als sie von dem Telefonat erzählt, rollen ihr Tränen übers Gesicht. „Er meinte am Anfang nur, Frau Wirth – sind Sie es wirklich? Dann begann er zu weinen. Er konnte nicht glauben, dass ich solche Fortschrit­te gemacht habe.“Er hat noch nie so einen schlimmen Unfall gesehen, habe er ihr gesagt. Noch nie erlebt, dass ein Unfallopfe­r trotz dieser schweren Verletzung­en bei vollem Bewusstsei­n blieb. Wirth wird den Unfallherg­ang nie vergessen. „Wir hatten beide Grün“, schildert sie. „Der Lkw-Fahrer und ich.“Sie hatte Vorfahrt, fuhr auf der Straße Lauterlech geradeaus. Er bog nach rechts in die Pilgerhaus­straße ab. Die Augsburger­in befand sich im fatalen toten Winkel. Der Lkw erfasste die Radlerin, schleifte sie ein paar Meter mit. Der Fahrer merkte, dass da etwas war. Er setzte zurück. Der 38-Tonner überfuhr sie ein zweites Mal. Ihren Unterkörpe­r, ihre Beine. Wirth blieb die ganze Zeit bei Bewusstsei­n. „Ich schrie vor Schmerzen. Ich konnte nicht aufhören zu schreien. Ich sah mein Fleisch neben mir liegen.“Sekunden seien für sie zu Stunden geworden.

Sie bekam mit, wie Gaffer mit Smartphone­s Videos drehten, wie die Leute aus der Straßenbah­n schauten. „Ich verabschie­dete mich von den Einsatzkrä­ften. Ich war überzeugt, dass ich jetzt sterbe.“Wirth erlitt zig Brüche. An Becken, Rippen, Hüfte und an den Beinen. Organe wurden verletzt. Das linke Bein nahezu zerfetzt, wie sie erzählt. Einer Amputation entging sie nur knapp. Das Bein musste neu aufgebaut werden. Sie ist dem Chefarzt der Unfallchir­urgie am Klinikum, Edgar Mayr, und seinem Team, so dankbar, wiederholt Wirth ständig. Dankbarkei­t ist genau das, was sie immer wieder ausdrückt. Sie ist dankbar, dass sie überlebt hat. Dass sich so viele Menschen um sie gekümmert haben. Auch Fremde.

Wie etwa der Polizist von der Unfallstel­le, der sie im Krankenhau­s besuchte und dafür sorgte, dass die Videos der Gaffer einkassier­t wurden. Sie ist dankbar, dass sie so tolle Freunde und Verwandte hat. „Sie sind unbezahlba­r. Sie haben sich über eine Chat-Gruppe abgesproch­en, wer mich wann besucht und was man mir mitbringt.“Auch jetzt, nach den Aufenthalt­en im Klinikum und in der Reha, erfahre sie großartige Unterstütz­ung von allen Seiten. Die Tränen laufen wieder bei ihr.

Rosemarie Wirth ist traumatisi­ert. Wenn sie jetzt eine viel befahrene Straße bei Grün überqueren muss, bekommt sie Panik. Wie auch in niedrigen Räumen, wenn die Decke so nah über ihr hängt. Vielleicht bekommt sie die Angstzustä­nde eines Tages in den Griff. Physisch aber wird sie wohl ihr Leben lang beeinträch­tigt bleiben. „Ich schaue nicht so aus, aber ich bin schwerst behindert.“Sie lacht: „Aber ich bin ein schöner Krüppel.“Da ist er wieder, ihr Galgenhumo­r.

Wirth muss sich nach einer barrierefr­eien Wohnung umsehen, ihr Auto verkaufen. „Ich brauche eine Pflegerin.“Allein das Anziehen morgens fällt ihr sehr schwer. „Ich muss jeden Schritt planen. Spontan geht in meinem Leben nichts mehr.“Weitere Operatione­n stehen bevor. „Die Ärzte können nicht sagen, wie es mir in ein paar Jahren geht, ob es schlimmer oder besser wird.“Trotzdem hadert die Frau nicht mit ihrem Schicksal.

„Das liegt mir völlig fern. Ich jammere nicht. Was sollte das auch bringen. Ich schaue nach vorne.“Wirth ist auch nicht wütend auf den Lkw-Fahrer. Im Gegenteil: Sie hat Mitleid. „Lkw-Fahrer, denen das passiert, sind ihr Leben lang gestraft. Keiner von ihnen macht das mit Absicht. Meiner hatte noch Glück, dass ich überlebt habe.“Aus dem Grund verzichtet­e sie auf eine Strafanzei­ge gegen den Unfallveru­rsacher. Kontakt zu ihm will sie aber nicht. Kommentare im Internet, in denen auf die Lkw-Fahrer nach solchen Unfällen geschimpft wird, ärgern sie sehr. Wirth sieht da ganz andere Verantwort­liche in der Pflicht.

„Die Stadt ist dazu aufgerufen, die Ampelschal­tung zu ändern“, findet die 50-Jährige. Sie schüttelt den Kopf: „Es kann doch nicht sein, dass Radfahrer und Autofahrer zur selben Zeit Grün bekommen. Die Ampelschal­tung muss für Rechtsabbi­eger zeitlich versetzt werden.“In der Pflicht seien auch Lkw-Hersteller. Wirth fordert, dass verpflicht­end Assistenzs­ysteme an Lkw eingebaut werden. „Das sollte so normal werden wie ein Blinker.“Diese speziellen Assistenzs­ysteme für Laster warnen die Fahrer, wenn sich neben dem Fahrzeug ein Radfahrer oder Fußgänger befindet, und bremsen das Fahrzeug im Gefahrenfa­ll selbststän­dig ab. Wie wir bereits berichtete­n, arbeiten die großen Lastwagen-Hersteller an solchen Systemen, es sind aber längst noch nicht alle serienreif. Wirth mahnt aber auch Fahrradfah­rer zur Vorsicht. Daran zu denken, dass sie vielleicht nicht vom Lkw-Fahrer gesehen werden. Lieber zu warten, auch wenn man Vorfahrt hat. „Denn das ist David gegen Goliath. Da hast du keine Chance.“Die Augsburger­in hatte eine sehr kleine Überlebens­chance. Aber ihr Leben ist jetzt ein anderes. »Kommentar

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Rosemarie Wirth gilt für ihre Ärzte und ihre Freunde als ein Wunder. Sie hat als Fahrradfah­rerin einen Unfall mit einem Lkw über lebt. Sie ist für immer gezeichnet. Sie sagt: „Ich bin praktisch veranlagt. Ich nehme das Schicksal an.“
Foto: Annette Zoepf Rosemarie Wirth gilt für ihre Ärzte und ihre Freunde als ein Wunder. Sie hat als Fahrradfah­rerin einen Unfall mit einem Lkw über lebt. Sie ist für immer gezeichnet. Sie sagt: „Ich bin praktisch veranlagt. Ich nehme das Schicksal an.“

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