Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Eine 80 Jährige ist für viele Flüchtlinge die Mama
Porträt Brigitta Cremer gibt mehreren Geflüchteten Deutschunterricht, sie macht aber noch viel mehr. Mal ist sie Trauzeugin, dann Stadtführerin oder Näherin. Warum? Sie hat eine einfache Erklärung
Brigitta Cremer ist 80 Jahre alt. Sie ist zierlich und klein und wirkt dabei beinahe zerbrechlich. Doch das ist sie nicht. Sie spricht pointiert über ihr Leben und ihre Ziele, sie steckt voller Tatendrang. Denn die Rentnerin hat vor einigen Jahren eine Aufgabe für sich entdeckt, die sie antreibt: Sie hilft Flüchtlingen.
Mit Deutschunterricht hat es begonnen, oft wurde sie schnell zur Ansprechpartnerin in allen Lebenslagen. Brigitta Cremer ist schon vor über 50 Jahren von Kassel nach Augsburg gekommen. Hier arbeitete sie als Fremdsprachenkorrespondentin in der Textilbranche. Englisch kann sie fließend, was ein großer Vorteil ist, wenn man jemandem Deutsch beibringen will, der noch keines spricht. Sie engagiert sich in ihrer Pfarrei, der evangelischen Barfüßerkirche in der Altstadt. In der Pfarrei gibt es einen sehr aktiven Helferkreis. Brigitta Cremer will sich zwar nicht im Helferkreis engagieren, aber sie will sich einbringen.
Ehrenamtliches Engagement – das ist ihr nicht fremd. Als sie in Rente ging, wurde ihr Mann krank. Sie pflegte ihn bis zu seinem Tod. Erst danach lernte sie den Hospizverein Albatros kennen, absolvierte dort eine Ausbildung zur Hospizhelferin und begleitet nun schon seit mehreren Jahren Kranke und deren Angehörige. Vor wenigen Jahren kam das Engagement für Flüchtlinge hinzu. „Ich habe kein HelferSyndrom. Ich bin einfach noch fit und habe Zeit“, betont sie.
Über den Helferkreis der Barfüßerkirche kommt sie an Mufid. Ihren Musterschüler, wie sie ihn nennt. Der Syrer ist strebsam, beginnt in Augsburg bald sein Studium. Er holt seine Lebensgefährtin Nadia nach. Als er sie im Augsburger Standesamt heiratet, ist Brigitta Cremer ihre Trauzeugin. Vor drei Jahren berichtet er beim Friedensfest auf dem Rathausplatz über seine Flucht, er erzählt auch Kindern und Jugendlichen in Schulen davon. Es gibt auch den Syrer Mohamad, der ehrenamtlich beim Roten Kreuz arbeitet, um den Menschen hier etwas zurückzugeben, die ihm so viel ge- holfen haben. Brigitta Cremer hilft aber auch Lina und ihrem Mann Fayez aus Syrien, die mittlerweile eine Wohnung in Lechhausen bezogen haben, und dem Muslim Taha aus Syrien, der, nachdem seine Familie nachzog, nun in Streitheim bei Donauwörth lebt.
Die 80-Jährige hilft, wo sie kann. Mal schaltet sie eine Zeitungsanzeige, um ein Ehebett oder Stockbett zu organisieren, dann kürzt sie die eine oder ander Jeanshose, mal zeigt sie den geflüchteten Menschen jeden Winkel Augsburgs, mal grillt sie für ihre Schützlinge, dann nimmt sie sie mit zu einem Ausflug nach Rothenburg ob der Tauber, um ihnen etwas außerhalb Augsburgs zu zeigen. „Ich versetze mich immer in ihre Lage. Wie es wohl wäre, wenn ich, ohne ein Wort Arabisch zu sprechen, in Syrien sein würde? Ich wäre dort aufgeschmissen“, sagt sie. Sie bekommt hautnah mit, wie schwierig es für die Flüchtlinge ist, hier Fuß zu fassen.
Wie mühsam es ist, Deutsch zu lernen. „Da gibt es ganz unsinnige Kapitel in den Büchern, etwa über ein Mehrgenerationenhaus. Wen interessiert das? Die Flüchtlinge kommen aus Ländern, wo alle Familienmitglieder ganz selbstverständlich unter einem Dach leben“, ärgert sie sich. Ihre Flüchtlinge berichten ihr von vollen Sprach- und Integrationskursen, wo es sehr laut zugeht. „Wie soll da jemand was lernen?“, fragt sie sich.
Oder die Wohnungssuche. Wer am Telefon wahrheitsgemäß angeben würde, dass er Flüchtling oder etwa Muslim sei, hätte gleich gar keine Chancen mehr. Oder der schwierige Versuch, eine Arbeitsstelle zu finden. „Ich kenne einen Flüchtling, der bei Amazon im Schichtdienst gearbeitet hat und dabei weniger Geld verdiente, als er vom Jobcenter bekommen hätte. Was dann oft die Konsequenz ist, können sie sich denken.“Ein anderer Flüchtling sei bei seinem Pflichtpraktikum wenig eingebunden und müsste sechs Monate rumbringen, ohne etwas zu verdienen. Brigitta Cremer kennt aber auch die anderen Seiten: die Unpünktlichkeit und Unverbindlichkeit. „Ich schärfe ihnen ein, dass sie in Deutschland pünktlich sein müssen. Wenn sie bei mir zu spät oder gar nicht kommen, ist erst einmal Pause. Ich laufe niemandem nach“, sagt sie. Mit ihren Schützlingen hält sie über „WhatsApp“Kontakt. Von vielen wird sie Mutter, Mama oder Lehrerin genannt. Sie will anderen ein Vorbild sein. „Ich werde von anderen Augsburgern gefragt, wie ich das mache, weil sie sich selber gerne engagieren würden. Das gebe ich gerne weiter, damit sich noch mehr einsetzen.“