Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Dieser „Oliver Twist“reißt alle mit
Ballett DanceCenter No1 begeistert mit einer packenden Tanzversion von Charles Dickens’ Romanklassiker
Gersthofen Armut, Bitterkeit, einsamer Tod – und mittendrin ein kleiner Junge, der nur eines möchte: überleben. Und bei einem unheilvollen Gewittersturm sowie einer martialischen Hintergrundmusik nahm die dramatische Handlung ihren verhängnisvollen Lauf ... In Kooperation mit dem Augsburger Jugendballett präsentierte das DanceCenter No1 in der Gersthofer Stadthalle eine berauschende Ballettadaption des Kinderbuchklassikers „Oliver Twist“und stellte damit in jeglicher Hinsicht ein Bühnenspektakel der Extraklasse auf die Beine.
Für ein Ballettensemble dennoch ein sehr ungewöhnliches Unterfangen, da die Thematik beklemmende Momente in sich birgt: Die sozialkritische Geschichte von Charles Dickens ist angesiedelt zu Zeiten der industriellen Revolution und handelt von einem besitzlosen Waisenknaben, der unverschuldet in einen trostlosen Strudel aus Kinderarbeit, Verbrechen und Verelendung der Gesellschaft gesogen wird. Doch in den dunklen Gassen des rußgeschwängerten Londons sind auch immer wieder hoffnungsvolle Lichtblicke zu finden. Die zumeist noch jugendlichen Tänzerinnen des Ensembles leisteten in der Tat ganz Erstaunliches: In den aufwendigen Ballettchoreografien, Sologesängen und Schauspieleinlagen glänzten die Kinder durch unfassbare Auftrittsfreude und selbst die Massenszenen wurden bis ins letzte kleine Detail meisterhaft umgesetzt. Als erwachsene Akteurin mischte sich die Jazzsängerin Stefanie Schlesinger in der Rolle der Nancy ins Geschehen und sorgte für anrührende Momente.
Im Zusammenspiel mit der stimmungsvollen Beleuchtung und zahlreichen technischen Spezialeffekten schufen die Darsteller schließlich ein nahezu filmreifes Bühnenwerk, das sich mitnichten hinter den großen Theaterproduktionen verstecken muss. Erstaunlich viel Wert hatten die Akteure auch auf originalgetreue Kostüme und eine ausnahmslos dichte Gesamtatmosphäre gelegt: Man konnte die bittere Armut fast am eigenen Leibe spüren, als die Kinder mit ihren Essschüsselchen auf einen kleinen Bissen Brot hofften, indes burleske Varietészenen auf den Straßen schonungslos die andere Seite der damaligen Gesellschaft widerspiegelten.
Ein herrlich nostalgischer Straßenzirkus, gespensterhafte Fried- hofszenen und zahlreiche Einblendungen historischer Originalaufnahmen ließen den zweischneidigen Charakter der industriellen Revolution in opulenter Weise wieder auferstehen. Auch originell: ein echter Hund auf der Bühne, dem es sichtlich Freude bereitete, mitten im Rampenlicht zu stehen.
Doch der grandios inszenierte Höhepunkt offenbarte sich erst am Ende des Spektakels, denn ein derart diabolisches Pas de Deux bekommt man nur sehr selten zu sehen: Das große Finale wurde mit einem blutroten Nebel eingeläutet, der die Bühne in einen wahren Höllenschlund verwandelte, wobei die beiden Solotänzer nur noch als dunkle Schatten über die Bühne schwebten: der Herr mit Zylinder, Schweißerbrille und Nietengürtel, die Dame im rabenschwarzen Gothic-Kostüm – ein bildgewaltiges Symbol für das Aufeinandertreffen zweier verstörender Zeitalter.
Der große Kunstgriff an dieser ungewöhnlichen Ballettvorstellung: Trotz einer zeitweilig sehr düsteren Inszenierung blieb die Aufführung zu jedem Zeitpunkt kindgerecht. Viele Szenen aus der literarischen Vorlage wichen neuen Ideen, umfangreiche Erzählpassagen wurden ohne Worte in mitreißende Massentänze transformiert. Der große Applaus ging letztendlich fast schon im begeisterten Jubelgeschrei der Gäste unter. Und dies zu Recht, denn dieses Showspektakel war keineswegs nur irgendein weiteres Kinderballett, sondern ein berauschendes Bühnenfest vom Feinsten.
Literarische Vorlage weicht neuen Ideen