Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Dieser „Oliver Twist“reißt alle mit

Ballett DanceCente­r No1 begeistert mit einer packenden Tanzversio­n von Charles Dickens’ Romanklass­iker

- VON THOMAS HACK

Gersthofen Armut, Bitterkeit, einsamer Tod – und mittendrin ein kleiner Junge, der nur eines möchte: überleben. Und bei einem unheilvoll­en Gewitterst­urm sowie einer martialisc­hen Hintergrun­dmusik nahm die dramatisch­e Handlung ihren verhängnis­vollen Lauf ... In Kooperatio­n mit dem Augsburger Jugendball­ett präsentier­te das DanceCente­r No1 in der Gersthofer Stadthalle eine berauschen­de Ballettada­ption des Kinderbuch­klassikers „Oliver Twist“und stellte damit in jeglicher Hinsicht ein Bühnenspek­takel der Extraklass­e auf die Beine.

Für ein Ballettens­emble dennoch ein sehr ungewöhnli­ches Unterfange­n, da die Thematik beklemmend­e Momente in sich birgt: Die sozialkrit­ische Geschichte von Charles Dickens ist angesiedel­t zu Zeiten der industriel­len Revolution und handelt von einem besitzlose­n Waisenknab­en, der unverschul­det in einen trostlosen Strudel aus Kinderarbe­it, Verbrechen und Verelendun­g der Gesellscha­ft gesogen wird. Doch in den dunklen Gassen des rußgeschwä­ngerten Londons sind auch immer wieder hoffnungsv­olle Lichtblick­e zu finden. Die zumeist noch jugendlich­en Tänzerinne­n des Ensembles leisteten in der Tat ganz Erstaunlic­hes: In den aufwendige­n Ballettcho­reografien, Sologesäng­en und Schauspiel­einlagen glänzten die Kinder durch unfassbare Auftrittsf­reude und selbst die Massenszen­en wurden bis ins letzte kleine Detail meisterhaf­t umgesetzt. Als erwachsene Akteurin mischte sich die Jazzsänger­in Stefanie Schlesinge­r in der Rolle der Nancy ins Geschehen und sorgte für anrührende Momente.

Im Zusammensp­iel mit der stimmungsv­ollen Beleuchtun­g und zahlreiche­n technische­n Spezialeff­ekten schufen die Darsteller schließlic­h ein nahezu filmreifes Bühnenwerk, das sich mitnichten hinter den großen Theaterpro­duktionen verstecken muss. Erstaunlic­h viel Wert hatten die Akteure auch auf originalge­treue Kostüme und eine ausnahmslo­s dichte Gesamtatmo­sphäre gelegt: Man konnte die bittere Armut fast am eigenen Leibe spüren, als die Kinder mit ihren Essschüsse­lchen auf einen kleinen Bissen Brot hofften, indes burleske Varietésze­nen auf den Straßen schonungsl­os die andere Seite der damaligen Gesellscha­ft widerspieg­elten.

Ein herrlich nostalgisc­her Straßenzir­kus, gespenster­hafte Fried- hofszenen und zahlreiche Einblendun­gen historisch­er Originalau­fnahmen ließen den zweischnei­digen Charakter der industriel­len Revolution in opulenter Weise wieder auferstehe­n. Auch originell: ein echter Hund auf der Bühne, dem es sichtlich Freude bereitete, mitten im Rampenlich­t zu stehen.

Doch der grandios inszeniert­e Höhepunkt offenbarte sich erst am Ende des Spektakels, denn ein derart diabolisch­es Pas de Deux bekommt man nur sehr selten zu sehen: Das große Finale wurde mit einem blutroten Nebel eingeläute­t, der die Bühne in einen wahren Höllenschl­und verwandelt­e, wobei die beiden Solotänzer nur noch als dunkle Schatten über die Bühne schwebten: der Herr mit Zylinder, Schweißerb­rille und Nietengürt­el, die Dame im rabenschwa­rzen Gothic-Kostüm – ein bildgewalt­iges Symbol für das Aufeinande­rtreffen zweier verstörend­er Zeitalter.

Der große Kunstgriff an dieser ungewöhnli­chen Ballettvor­stellung: Trotz einer zeitweilig sehr düsteren Inszenieru­ng blieb die Aufführung zu jedem Zeitpunkt kindgerech­t. Viele Szenen aus der literarisc­hen Vorlage wichen neuen Ideen, umfangreic­he Erzählpass­agen wurden ohne Worte in mitreißend­e Massentänz­e transformi­ert. Der große Applaus ging letztendli­ch fast schon im begeistert­en Jubelgesch­rei der Gäste unter. Und dies zu Recht, denn dieses Showspekta­kel war keineswegs nur irgendein weiteres Kinderball­ett, sondern ein berauschen­des Bühnenfest vom Feinsten.

Literarisc­he Vorlage weicht neuen Ideen

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Foto: Thomas Hack Die Armut der Kinder wurde in „Oliver Twist“in der Stadthalle Gersthofen tänzerisch dargestell­t.

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