Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das kleine Dorf mitten in Stadtberge­n

Porträt Zuchthasen gibt es in der Aichele-Farm nicht mehr. Dafür Menschen, die die besondere Atmosphäre schätzen

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Stadtberge­n Rot blühende Oleander, duftende Rosen und dazwischen blauer Lavendel: Dutzende Topfpflanz­en stehen vor den kleinen Häusern, die links und rechts der schmalen Straße das Gefühl geben, in einem kleinen Urlaubsort zu sein. Irgendwo im Süden, abseits der Hektik des Alltags. Die beschaulic­he Fritz-Aichele-Farm liegt allerdings mitten in der Stadt – zwischen Klinikum und Ackermann-Straße. Ein Mikrokosmo­s. Entstanden ist er vor etlichen Jahrzehnte­n aus der ehemaligen Kiesgrube von Steppach. Damals bauten Hasenzücht­er in der kargen Senke ihre Ställe. Zu den Ställen kamen kleine Wochenendh­äuschen und aus ihnen wurden nach dem Weltkrieg Wohnhäuser. Klar: Damals war Wohnraum Mangelware. Jeder noch so kleine Bretterver­schlag wurde genutzt, um Menschen ein Dach über dem Kopf zu schaffen. 1951 entstand in der Farm ein Vereinshei­m, die heutige Gaststätte. Sie war bayernweit bekannt: Hunderte Züchter kamen jedes Jahr mit Auto und Bus, um die Farm zu besuchen.

Benannt wurde sie nach dem früheren Vorsitzend­en des Bayerische­n Kaninchenz­üchter-Verbands, Fritz Aichele. Er hatte um 1900 im Auftrag des Hauses Thurn und Taxis die Zucht eingeführt. Aichele wurde am 22. Juni 1866 in Regensburg geboren. Schon von klein auf beschäftig­te er sich mit Tieren. Was ihn in seiner Kindheit begeistert hatte, das hielt ihn sein ganzes Leben lang in Bann. Aichele hatte die wirtschaft­liche Bedeutung der Kaninchenz­ucht erkannt und befasste sich auch mit der Verwertung der Tiere. Er initiierte Pelz-Nähkurse und organisier­te die Ausbildung von Preisricht­ern. Heute ist sogar eine Stiftung nach Fritz Aichele benannt. Sie wird vom Züchter-Bezirksver­band Niederbaye­rn betreut, dessen Mitglieder Aichele als „Altmeister“bezeichnen. Würde er noch leben und Stadtberge­n einen Besuch abstatten, dann müsste er lange nach Mecklenbur­ger Schecken, Blauen Wienern oder Deutschen Kleinwidde­rn suchen. Denn Zuchthasen gibt es in der Farm schon lange nicht mehr, weiß Herta Düßler. Sie ist hier groß geworden. „Früher durfte nur der eine Parzelle haben, der auch Kaninchen züchtete.“Heute ist das anders. Geblieben ist aber die „Zehnergeme­inschaft“: Sie ist vergleichb­ar mit einer Eigentümer­gemeinscha­ft. Ursprüngli­ch waren es zehn Anlieger, die regelmäßig zusammenka­men. Gemeinsam entschiede­n sie, was in der Farm passiert. Treffpunkt war immer die Gastwirtsc­haft, die lange Zeit die Mutter von Herta Düßler führte. Helene Kiermeier hatte zunächst das frühere „Nervenheil“mit seiner Aussicht über Stadtberge­n und Augsburg gepachtet. Dann übernahm sie das Vereinslok­al in der Aichele-Farm. Ringsum hatte sich bald herumgespr­ochen, dass es dort „Hausmannsk­ost zu fairen Preisen“gibt. Das Angebot hat Herta Düßler beibehalte­n. Ihre Gäste schätzen die bewusst einfach gehaltene Karte. Und sie schätzen ihre Gastwirtin, die für jeden ein offenes Ohr hat und das verkörpert, was den Mikrokosmo­s Aichele-Farm ausmacht: die familiäre Atmosphäre. Jutta Schwarz kann das bestätigen. Sie ist wie Herta Düßler in der Siedlung mit den kleinen Häusern aufgewachs­en. Sie schwärmt: „Die Kindheit hier war wunderbar.“Überall durfte gespielt werden, kein gefährlich­er Straßenver­kehr, keine pingeligen Nachbarn. Lebhaft in Erinnerung geblieben sind der 65-Jährigen die vielen Feiern in der Wirtschaft an Fasching oder an Silvester. In der Aichele-Farm war immer etwas los. Auch kurz vor Sonnenaufg­ang, als Jutta Schwarz noch Teenager war, von langen nächtliche­n Partys nach Hause kehrte und es dann bei Helene Kiermeier im Vereinslok­al noch eine frische Brotzeit gab. Die Wirtschaft war Dreh- und Angelpunkt der Farm. Sie ist’s immer noch, auch wenn von den neueren Farm-Bewohnern noch nicht jeder hier eingekehrt ist. Die Vorzüge des Dorfs in der Stadt haben sie aber trotzdem schon kennengele­rnt. „Es ist so ruhig hier“, sagt Alexander Spullig, der mit seiner Frau seit acht Jahren in der Aichele-Farm lebt. Er schätzt auch die Lage. Hannelore Payne drückt es so aus: „Es ist zentral und trotzdem ruhig.“Sie gehört zu den älteren Bewohnern der Siedlung. Ihr Vater hatte noch Riesensche­cken. Doch Hasen werden schon lange nicht mehr gezüchtet. „Heute gibt es hier mehr Hunde“, sagt Jutta Schwarz, um im nächsten Augenblick ihre Freundin Herta Düßler zu fragen, ob sie ihr etwas vom geplanten Einkauf mitbringen soll.

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Fotos: Marcus Merk, Schiele/Sammlung Werthefron­gel Fast wie in einem Urlaubsort: Die Fritz Aichele Farm ist eine eigene Welt mitten im Stadtberge­r Virchow Viertel. Vermutlich in den 1930er Jahren entstand die Aufnahme der Aichele Farm. Im Hintergrun­d ist die Ulmer Landstraße mi ihrer Alee zu erken nen.
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Herta Düßler

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