Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Das kleine Dorf mitten in Stadtbergen
Porträt Zuchthasen gibt es in der Aichele-Farm nicht mehr. Dafür Menschen, die die besondere Atmosphäre schätzen
Stadtbergen Rot blühende Oleander, duftende Rosen und dazwischen blauer Lavendel: Dutzende Topfpflanzen stehen vor den kleinen Häusern, die links und rechts der schmalen Straße das Gefühl geben, in einem kleinen Urlaubsort zu sein. Irgendwo im Süden, abseits der Hektik des Alltags. Die beschauliche Fritz-Aichele-Farm liegt allerdings mitten in der Stadt – zwischen Klinikum und Ackermann-Straße. Ein Mikrokosmos. Entstanden ist er vor etlichen Jahrzehnten aus der ehemaligen Kiesgrube von Steppach. Damals bauten Hasenzüchter in der kargen Senke ihre Ställe. Zu den Ställen kamen kleine Wochenendhäuschen und aus ihnen wurden nach dem Weltkrieg Wohnhäuser. Klar: Damals war Wohnraum Mangelware. Jeder noch so kleine Bretterverschlag wurde genutzt, um Menschen ein Dach über dem Kopf zu schaffen. 1951 entstand in der Farm ein Vereinsheim, die heutige Gaststätte. Sie war bayernweit bekannt: Hunderte Züchter kamen jedes Jahr mit Auto und Bus, um die Farm zu besuchen.
Benannt wurde sie nach dem früheren Vorsitzenden des Bayerischen Kaninchenzüchter-Verbands, Fritz Aichele. Er hatte um 1900 im Auftrag des Hauses Thurn und Taxis die Zucht eingeführt. Aichele wurde am 22. Juni 1866 in Regensburg geboren. Schon von klein auf beschäftigte er sich mit Tieren. Was ihn in seiner Kindheit begeistert hatte, das hielt ihn sein ganzes Leben lang in Bann. Aichele hatte die wirtschaftliche Bedeutung der Kaninchenzucht erkannt und befasste sich auch mit der Verwertung der Tiere. Er initiierte Pelz-Nähkurse und organisierte die Ausbildung von Preisrichtern. Heute ist sogar eine Stiftung nach Fritz Aichele benannt. Sie wird vom Züchter-Bezirksverband Niederbayern betreut, dessen Mitglieder Aichele als „Altmeister“bezeichnen. Würde er noch leben und Stadtbergen einen Besuch abstatten, dann müsste er lange nach Mecklenburger Schecken, Blauen Wienern oder Deutschen Kleinwiddern suchen. Denn Zuchthasen gibt es in der Farm schon lange nicht mehr, weiß Herta Düßler. Sie ist hier groß geworden. „Früher durfte nur der eine Parzelle haben, der auch Kaninchen züchtete.“Heute ist das anders. Geblieben ist aber die „Zehnergemeinschaft“: Sie ist vergleichbar mit einer Eigentümergemeinschaft. Ursprünglich waren es zehn Anlieger, die regelmäßig zusammenkamen. Gemeinsam entschieden sie, was in der Farm passiert. Treffpunkt war immer die Gastwirtschaft, die lange Zeit die Mutter von Herta Düßler führte. Helene Kiermeier hatte zunächst das frühere „Nervenheil“mit seiner Aussicht über Stadtbergen und Augsburg gepachtet. Dann übernahm sie das Vereinslokal in der Aichele-Farm. Ringsum hatte sich bald herumgesprochen, dass es dort „Hausmannskost zu fairen Preisen“gibt. Das Angebot hat Herta Düßler beibehalten. Ihre Gäste schätzen die bewusst einfach gehaltene Karte. Und sie schätzen ihre Gastwirtin, die für jeden ein offenes Ohr hat und das verkörpert, was den Mikrokosmos Aichele-Farm ausmacht: die familiäre Atmosphäre. Jutta Schwarz kann das bestätigen. Sie ist wie Herta Düßler in der Siedlung mit den kleinen Häusern aufgewachsen. Sie schwärmt: „Die Kindheit hier war wunderbar.“Überall durfte gespielt werden, kein gefährlicher Straßenverkehr, keine pingeligen Nachbarn. Lebhaft in Erinnerung geblieben sind der 65-Jährigen die vielen Feiern in der Wirtschaft an Fasching oder an Silvester. In der Aichele-Farm war immer etwas los. Auch kurz vor Sonnenaufgang, als Jutta Schwarz noch Teenager war, von langen nächtlichen Partys nach Hause kehrte und es dann bei Helene Kiermeier im Vereinslokal noch eine frische Brotzeit gab. Die Wirtschaft war Dreh- und Angelpunkt der Farm. Sie ist’s immer noch, auch wenn von den neueren Farm-Bewohnern noch nicht jeder hier eingekehrt ist. Die Vorzüge des Dorfs in der Stadt haben sie aber trotzdem schon kennengelernt. „Es ist so ruhig hier“, sagt Alexander Spullig, der mit seiner Frau seit acht Jahren in der Aichele-Farm lebt. Er schätzt auch die Lage. Hannelore Payne drückt es so aus: „Es ist zentral und trotzdem ruhig.“Sie gehört zu den älteren Bewohnern der Siedlung. Ihr Vater hatte noch Riesenschecken. Doch Hasen werden schon lange nicht mehr gezüchtet. „Heute gibt es hier mehr Hunde“, sagt Jutta Schwarz, um im nächsten Augenblick ihre Freundin Herta Düßler zu fragen, ob sie ihr etwas vom geplanten Einkauf mitbringen soll.