Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Über den Virus des Zeitsparens
Theater Jule Kracht inszeniert „Momo“im Martini-Park. Aus dem Kindermärchen können auch Erwachsene noch lernen
Auf der Bühne fällt sofort das Amphitheater ins Auge. „Momo“spielt aber an zahlreichen weiteren Orten. Wie lösen Sie das?
Jule Kracht: Wir haben hier keinen Schnürboden, keine Drehbühne – und trotzdem 20 Orte zu behaupten. Das war eine Herausforderung für meine Bühnenbildnerin Nora Lau und für mich. Es wird natürlich nicht nur das Amphitheater geben. Aber wie genau die anderen Orte entstehen, das ist der große Zauber, den ich so ungern vorher verrate. Nur so viel: Es gibt keine Techniker, die Schauspieler rücken das Bühnenbild selber in Position.
Wie gelingt es, einen knapp 300 Seiten dicken Roman zu einem anderthalb Stunden langen Theaterstück zu komprimieren?
Kracht: Ich nutze unter anderem die Hilfe eines Erzählers, der große Zeitsprünge machen oder Dinge zusammenfassen kann. Es gibt auch sehr viel Musik, von Jan Maihorn komponiert, die starke Stimmung in bestimmte Atmosphären bringt. „Momo“ist ja nicht nur ein sehr langes Buch, sondern es geht auch um Zeit, um Verlangsamung, Schnelligkeit, Zeitsparen. Darüber ein komprimiertes Stück herauszubringen, ist eigentlich ein Widerspruch. Trotzdem muss Momo, die sich für alles Zeit nimmt und zuhört, genauso präsent sein wie die grauen Herren, die alles schneller machen.
Haben Sie sich von anderen Bühnen- versionen oder Verfilmungen inspirieren lassen?
Kracht: Wir haben das Stück an der Fassung von Vita Huber aufgebaut gemeinsam mit den Schauspielern habe ich sie noch einmal überarbeitet. Die Verfilmung von „Momo“hat mich als Kind sehr geprägt, die Hauptdarstellerin Radost Bokel und ich waren im gleichen Alter. Ich kann mich genau erinnern: Ich wollte das auch spielen. Seit meiner Kindheit ist der Film also wie eingebrannt. Jetzt während der Probezeit habe ich ihn mir aber nur einmal an- geschaut. Meine Bühnenbildnerin hat ihn gar nicht gesehen, wollte ihn auch nicht sehen.
Sie sagen, „Momo“hat sie schon früh geprägt. Wie ist es für Sie persönlich, das Stück nun hier in Augsburg zu inszenieren?
Kracht: Der Film war als Kind wichtig für mich, aber in erster Linie hat mich das Buch geprägt. Es gehört tatsächlich zu meinen drei Lieblingsbüchern, vor einigen Jahren habe ich es meiner Tochter vorgelesen. Als das Angebot aus Augsburg kam, „Momo“zu inszenieren, habe ich mich total gefreut. Ich mache schon sehr lange Theater und inszeniere seit zehn Jahren. „Momo“war immer mein Wunschtraum. Deswegen bin ich aber auch sehr aufgeregt, weil mir das Stück ganz besonders am Herzen liegt.
Sie haben bereits viele Stücke für Kinder inszeniert, standen als Schauspielerin aber auch vor erwachsenem Publikum. Wer ist anspruchsvoller? Kracht: Das junge Publikum ist viel unmittelbarer, es reagiert direkt. Daher ist es auch das anspruchsvollere Publikum. Aber immer, wenn ich selber vor Erwachsenen gespielt habe, war ich völlig irritiert, wie ruhig die sind, wie wenig ich von denen zurückbekomme. Da fehlt dieser Austausch. Bei Kindern kann man sich nicht in Kunstkram verlieren, man muss immer wieder zugreifen, sie auch krass fordern. Ich muss immer wieder überlegen: Halten die das durch, schaffen die das? Das ist bei Erwachsenen natürlich genau so, die äußern sich bloß nicht. Bei Jugendlichen ist es noch mal anders, die sind besonders hart. Kinder lassen sich eher verzaubern.
„Momo“ist kein nettes Weihnachtsmärchen. Was können die Zuschauer aus dem Stück lernen?
Kracht: „Momo“ist eine krasse Gesellschaftskritik von Michael Ende. Selbst mir schnürt sich ab und zu der Hals zu wegen des Virus des Zeitsparens. Das tolle italienische Restaurant wird zum Schnellrestaurant. Kinder werden in Kinderdepots gesteckt. Freunde bringen einem nichts mehr. Spielzeug muss sprechen können, aber spielen muss man damit nicht mehr. Das sind Bilder dafür, was passiert, dass wir schneller und effektiver werden müssen. Das sind alles Dinge, mit denen sich Erwachsene und Kinder auseinandersetzen. Ein richtiges Familienstück, das fragt, worum es im Leben geht und zeigt, was man tun muss, um sein Leben wieder zu entzerren.
Interview: Sandra Liermann