Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (15)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
I
ch ergriff die unsichtbaren Zügel, die sie mir hinhielt, und wir ritten los, immer am Zaun entlang, hin und her, bald im Trab, bald im Galopp. Dass ich Ruth gesagt hatte, ich hätte keine eigenen Pferde, war wohl richtig gewesen, denn nachdem ich eine Zeit lang auf Brombär geritten war, ließ sie mich auch ihre übrigen Pferde ausprobieren, eines nach dem anderen, und rief mir alle möglichen Anweisungen zu, wie ich mit den Schwächen jedes Tiers umzugehen hätte.
„Ich hab’s dir doch gesagt! Auf Narzisse musst du dich ganz weit zurücklehnen! Noch viel weiter! Sie trägt dich nur, wenn du ganz hinten sitzt!“Anscheinend hielt ich mich wacker, denn am Ende ließ sie mich Donner, ihren Liebling, ausprobieren. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir an diesem Tag mit den Pferden verbrachten; es kam mir sehr lange vor, und ich glaube, wir waren beide von unserem Spiel vollkommen in Anspruch genommen. Aber Ruth bereitete ihm ohne ersichtlichen
Grund ein jähes Ende, indem sie behauptete, ich hätte ihre Pferde absichtlich strapaziert und müsse jetzt jedes einzelne in den Stall zurückbringen. Sie deutete auf einen Abschnitt des Zauns, und ich begann die Pferde am Halfter zu der Stelle zu führen, während Ruth immer zorniger wurde und mir vorwarf, alles falsch zu machen. Dann fragte sie: „Magst du Miss Geraldine?“
Es wird wohl das erste Mal gewesen sein, dass ich wirklich einmal darüber nachdachte, ob ich eine Aufseherin gern hatte. Schließlich sagte ich: „Natürlich mag ich sie.“
„Magst du sie auch ganz echt? Wie was Besonderes? Wie deine Lieblingsaufseherin?“
„Ja. Sie ist meine Lieblingsaufseherin.“Ruth sah mich lange unverwandt an. Und am Ende sagte sie: „Gut. In dem Fall darfst du eine ihrer Geheimwächterinnen sein.“
Wir machten uns auf den Rückweg zum Haupthaus, und ich wartete die ganze Zeit auf eine Erklärung von ihr, die jedoch nicht erfolgte. Allerdings fand ich im Lauf der nächsten Tage selbst heraus, was es damit auf sich hatte.
Kapitel 5
Wie lang die Sache mit der „Geheimwache“ging, weiß ich nicht mehr genau. Als ich in Dover Ruths Betreuerin war, sprachen wir darüber, und sie behauptete, es seien nur zwei oder drei Wochen gewesen – aber das ist ganz sicher falsch. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, und ihr Gedächtnis hat die ganze Geschichte stark abgekürzt. Ich selbst vermute ja, dass diese Phase neun Monate währte, vielleicht sogar ein Jahr. Wir waren damals sieben, fast acht Jahre alt.
Ob Ruth die Geheimwache selbst erfunden hatte, war mir nie klar, aber dass sie die Anführerin war, stand außer Zweifel. Unsere Zahl schwankte zwischen sechs und zehn, je nachdem, ob Ruth ein neues Mitglied aufnahm oder ein altes ausschloss. Für uns war Miss Geraldine die beste Aufseherin von Hailsham, und wir bastelten Geschenke für sie – ein großes Blatt Papier mit aufgeklebten gepressten Blumen fällt mir ein. Aber unser eigentlicher Daseinszweck war natürlich, sie zu beschützen. Als ich der Wache beitrat, wussten Ruth und die anderen schon ewig von dem Komplott, Miss Geraldine zu kidnappen. Wir erfuhren nie, wer dahinter steckte. Manchmal hatten wir bestimmte Senior-Knaben im Verdacht, dann wieder Jungen aus unserem Jahrgang. Eine Zeit lang hielten wir eine Aufseherin, die wir nicht besonders mochten, eine gewisse Miss Eileen, für die Drahtzieherin. Wann die Entführung stattfinden sollte, wussten wir nicht, aber dass der Wald eine Rolle dabei spielte, stand für uns fest.
Dieser Wald begann auf dem Kamm des Hügels, der hinter dem Haupthaus anstieg. Wir sahen eigentlich nicht mehr von ihm als eine dichte dunkle Baumreihe, aber ich war sicher nicht die Einzige in meinem Jahrgang, die Tag und Nacht seine Präsenz spürte. Wenn es schlimm wurde, war es, als fiele sein Schatten über ganz Hailsham; man brauchte nur den Kopf zu wenden oder an ein Fenster zu treten, und da war er, bedrohlich lauernd in der Ferne. Am sichersten war man im vorderen Teil des Hauptgebäudes, wo er von keinem Fenster aus zu sehen war. Aber ganz kam man nie von ihm los. Über den Wald kursierten alle möglichen grausigen Geschichten. Nicht lang bevor wir nach Hailsham gekommen waren, soll einmal ein Junge einen großen Krach mit seinen Freunden gehabt haben und vom Gelände fortgerannt sein. Seine Leiche wurde zwei Tage später oben im Wald gefunden, an einen Baum gefesselt, mit abgetrennten Händen und Füßen. Einem anderen Gerücht zufolge spukte der Geist eines Mädchens in diesem Wald.
Sie war Hailsham-Kollegiatin gewesen, bis sie eines Tages über den Zaun kletterte, weil sie wissen wollte, wie es draußen aussah. Das war lange vor uns, als die Aufseher noch viel strenger waren, grausam sogar, und als sie wieder zurückkommen wollte, verwehrten sie es ihr. Tagelang trieb sie sich draußen vor dem Zaun herum und flehte um Einlass, aber man ließ sie nicht. Schließlich ging sie fort, irgendwohin, wo ihr etwas passierte, und starb. Aber ihr Geist irrte noch immer durch den Wald, blickte auf Hailsham hinab und verzehrte sich vor Sehnsucht, wieder eingelassen zu werden.
Die Aufseher behaupteten steif und fest, solche Geschichten seien blanker Unsinn. Aber die älteren Kollegiaten sagten, genau dasselbe hätten auch sie von den Aufsehern zu hören bekommen, als sie jünger waren, und wir würden die grausige Wahrheit noch früh genug erfahren, genau wie sie selbst.
Besonders heftig entzündete der Wald unsere Phantasie, wenn es dunkel war und wir in unseren Betten lagen und zu schlafen versuchten. Dann meinte man fast zu hören, wie der Wind in den Zweigen raschelte, und darüber zu reden machte alles nur schlimmer.
Ich erinnere mich an einen Abend, da wir alle böse auf Marge K. waren, die an diesem Tag etwas absolut Peinliches getan hatte. Wir bestraften sie, indem wir sie aus dem Bett zerrten, ihr Gesicht ans Fenster drückten und sie zwangen, zum Wald hinaufzustarren. Zuerst kniff sie die Augen fest zu, aber wir zwickten sie in die Arme und rissen ihr mit Gewalt die Lider auf, bis sie die ferne schwarze Silhouette vor dem mondhellen Himmel sah. Das genügte, um ihr eine durchweinte Nacht des Grauens zu bescheren.
Damit will ich nicht sagen, dass wir uns in diesem Alter ununterbrochen vor dem Wald fürchteten. Mir zum Beispiel ging es so, dass ich wochenlang kaum an ihn dachte, ja, es gab sogar Tage, an denen ich mich in einer trotzigen Anwandlung von Mut fragte: Wie haben wir nur je so einen Unsinn glauben können? Aber eine Kleinigkeit genügte – jemand wärmte die alten Gerüchte wieder auf, ich stieß auf eine unheimliche Stelle in einem Buch oder schnappte zufällig eine Bemerkung auf, die mich an den Wald erinnerte –, und schon stand ich wieder eine ganze Weile in seinem Bann.
»16. Fortsetzung folgt