Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ägäis wird zur Todesfalle für Erdogan Gegner

Türkei Entsetzen nach Tod einer fünfköpfig­en Familie bei der Flucht nach Lesbos. Nach dem Putschvers­uch von 2016 ist der Druck gegen tatsächlic­he oder vermeintli­che Regierungs­kritiker extrem. Einige sehen nur noch einen Ausweg

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Der Familienva­ter wusste keinen Ausweg mehr. Er sah die gefährlich­e Überfahrt von der türkischen Küste zur griechisch­en Insel Lesbos als letzte Rettung für seine Frau, seine drei Kinder und für sich selbst. „Wir gehen ins Ungewisse“, soll er einem Bekannten noch gesagt haben. Wenig später wurde seine Leiche auf Lesbos gefunden, auch seine Frau und seine Kinder ertranken. An die Geschichte­n verzweifel­ter Flüchtling­e aus Syrien, die in der Ägäis ihr Leben riskieren, hat sich die Welt gewöhnt. Doch die Familie, die vorige Woche auf dem Weg nach Lesbos starb, war nicht aus Syrien, sondern aus der Türkei. Ihr Schicksal wirft ein Schlaglich­t auf eine bisher wenig bekannte Seite der Verfolgung mutmaßlich­er Regierungs­gegner durch die Regierung.

Rund 150000 Staatsbedi­enstete sind seit dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres entlassen worden, mehr als 50000 Verdächtig­e sitzen im Gefängnis. Aus Sicht der Regierung ist die Verhaftung­swelle notwendig, um das Netzwerk des mutmaßlich­en Putsch-Führers Fethullah Gülen zu zerstören, doch Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan sprechen von einer Hexenjagd auf Kritiker jedweder Couleur. Die Regierung schätzt die Zahl von Gülen-Anhängern im Land auf etwa 250 000. Rechnet man die Familienan­gehörigen hinzu, kommt man auf rund eine Million Menschen.

Selbst ohne Untersuchu­ngshaft bedeutet der Vorwurf der Mitgliedsc­haft in der Gülen-Bewegung den Ruin für tausende Familien. Angebliche Gülen-Anhänger finden keine geregelte Arbeit mehr und müssen sich mithilfe von Ersparniss­en und Gelegenhei­tsjobs durchschla­gen. Wenn das Geld aufgebrauc­ht ist, wissen viele nicht mehr weiter.

So ging es auch Hüseyin Maden, einem 40-jährigen Physiklehr­er an einem Gymnasium in der Kleinstadt Daday in der Schwarzmee­r-Provinz Kastamonu. Mit seiner Frau Nur, einer Grundschul­lehrerin, und den drei Kindern Nadire, 13, Nur, 10, und Feridun, 7, führte Maden ein ruhiges Leben, laut Medienberi­chten war er ein bei Schülern und Vorgesetzt­en beliebter Lehrer. Die Idylle endete drei Monate nach dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016. Per Regierungs­erlass wurden Maden und seine Frau aus dem Staatsdien­st entfernt und wegen Mitgliedsc­haft in der Gülen-Bewegung angeklagt. Nur Maden wurde zu siebeneinh­alb Jahren Haft verurteilt, blieb vorerst aber auf freiem Fuß. Vor wenigen Monaten soll Hüseyin Madens Name dann auf einer Liste angebliche­r hoher Gülen-Vertreter in der Türkei aufgetauch­t sein – ihm drohte ein neuer Prozess. Aus Angst vor der Polizei verließen die Madens ihre Heimatstad­t und kamen bei Bekannten unter. Als das Geld zur Neige ging, beschloss Hüseyin Maden, die Flucht nach Griechenla­nd zu wagen. Die 10 000 Euro oder mehr, die von Menschenhä­ndlern für eine fünfköpfig­e Familie verlangt werden, waren für die Madens unerschwin­glich. Hüseyin Maden kratzte deshalb seine letzten Ersparniss­e zusammen, kaufte sich an der Ägäis-Küste ein klappriges altes Boot, ließ sich kurz die wichtigste­n Dinge erklären und fuhr mit seiner Familie los – in den Tod.

In der Türkei sorgt das Schicksal der Familie für großes Aufsehen – schließlic­h seien viele Menschen im Land in einer ähnlichen Situation, schrieb der Menschenre­chtsaktivi­st Ömer Faruk Gergerliog­lu in einem Beitrag für die regierungs­kritische Nachrichte­nplattform Artigercek. Die Madens sind bei weitem nicht die ersten und wohl auch nicht die letzten mutmaßlich­en Gülenisten, die nach Europa fliehen wollen. Fast jede Woche melden die Zeitungen die Festnahmen von Menschen, die sich über die Ägäis oder den Grenzfluss Maritza nach Griechenla­nd absetzen wollen. „Menschen sterben auf der Flucht aus einem Land ohne Demokratie und Rechtsstaa­t“, schrieb Gergerliog­lu auf Twitter.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Blick auf Lesbos. Nun versuchen auch türkische Flüchtling­e, die griechisch­e Ägäis Insel zu erreichen.

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