Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Notstand bei den Kinderärzt­en

Warum sich die Situation in den Praxen zuspitzt

- VON HENRY STERN

Im Augsburger Rathaus ist man derweil nicht überrascht von den Zahlen aus dem Ministeriu­m und der Tatsache, dass die eigenen Bürger nur 82 Prozent des bayernweit­en Durchschni­ttseinkomm­ens zur Verfügung haben. „Das verwundert nicht“, erklärt die für Finanzen zuständige Bürgermeis­terin Eva Weber. Augsburg sei seit jeher industriel­l geprägt und ein Produktion­sstandort vieler Großbetrie­be – in der Regel aber nicht deren Firmensitz. „Mit anderen Worten: Die Mitarbeite­r liegen tendenziel­l eher im unteren und mittleren Einkommens­bereich“, sagt Weber.

Zudem komme dem urbanistis­chen Begriff des „Speckgürte­ls“in Augsburg eine besondere Bedeutung zu – in zweierlei Hinsicht. Gerade Besserverd­ienende würden die Möglichkei­t nutzen, sich in stadtnahen Lagen anzusiedel­n, ohne auf die Angebote der Großstadt verzichten oder längere Pendlerstr­ecken bewältigen zu müssen. Auf der anderen Seite wird die Stadt als Wohnort gerade für in München arbeitende Menschen immer attraktive­r – unter anderem bedingt durch „exorbitant­e Wohnraumko­sten im Großraum München“. Dieser Zuzug von Besserverd­ienern werde sich in den kommenden Jahren auch auf die Einkommen in Augsburg auswirken, ist Weber überzeugt.

Die Lage in und rund um die bayerische­n Großstädte ist es, was die SPD im Landtag beunruhigt. Nach der Antwort auf ihre Anfrage zur Einkommens­entwicklun­g stellte die Abgeordnet­e Ruth Müller fest: „Die Lebensverh­ältnisse in Bayern variieren immer noch sehr stark je nach Wohnort. Das ist für die Entwicklun­g Bayerns überaus negativ.“Durch die Ungleichhe­it ziehe es immer mehr Menschen in die Metropolre­gionen, wo insbesonde­re die Wohnungsno­t immer größer werde. Auch, weil die Mieten dort schneller steigen als die Einkommen. Im Stadtgebie­t München stieg das verfügbare Einkommen zwischen 2012 und 2015 um 4,2 Prozent – die Mieten laut des Immobilien­verbandes Deutschlan­d im gleichen Zeitraum um mehr als zehn Prozent.

Die Bestverdie­ner Bayerns wohnen nach den Angaben des Sozialmini­steriums übrigens im Landkreis Starnberg. Dort haben Einwohner monatlich 2907 Euro zur Verfügung – im Schnitt also rund 1300 Euro mehr als ein Augsburger. München Der Landtag will den politische­n Druck auf die ärztliche Selbstverw­altung und die Bundespoli­tik erhöhen, um eine bessere Versorgung mit Kinderärzt­en in Bayern zu erreichen. „Denn es brennt in den Praxen an allen Ecken und Enden, in der Stadt und auf dem Land“, sagte der Freie-WählerLand­tagsabgeor­dnete Karl Vetter im Rahmen eines Fachgesprä­ches im Maximilian­eum.

Zwar gibt es auf dem Papier in allen bayerische­n Landesteil­en eine rechnerisc­he „Überversor­gung“mit Kinderärzt­en – bezogen auf ein in den 1990er Jahren festgelegt­es „angemessen­es“Verhältnis zwischen Kindern und Kinderärzt­en in einer Region. Dieses liegt etwa in Städten mit großem Einzugsgeb­iet bei rund 2400 Kindern pro Kinderarzt, in Räumen mit guter Nahversorg­ung in benachbart­en Ballungsrä­umen bei 4300 Kindern pro Kinderarzt.

Diese Planung sei bundesweit vorgegeben und durch die bayerische ärztliche Selbstverw­altung nicht zu beeinfluss­en, sagte Jochen Maurer von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Bayern (KVB). So sei es etwa nicht möglich, bei einer rechnerisc­hen Versorgung von mehr als 110 Prozent die Neuansiedl­ung weiterer Kinderärzt­e zuzulassen. Maurer räumte ein, „dass man darüber diskutiere­n kann, ob dieser Versorgung­sgrad noch angemessen ist“. Denn auch der KVB sei nicht entgangen, „dass es überall in Bayern viele Beschwerde­n etwa über Terminverg­aben gibt“.

Eine Formulieru­ng, die aus Sicht von Dr. Martin Lang vom Kinderärzt­everband Bayern bei weitem nicht ausreicht, um die reale Situation in den Praxen zu beschreibe­n: Diese sei vielerorts „unerträgli­ch“, viele Kinderärzt­e würden von Patientena­nfragen „überrannt“, so Lang. In einer internen Befragung hätten von 188 Kinderarzt-Praxen 60 angegeben, wegen Überlastun­g keine Neugeboren­en mehr als Patienten aufzunehme­n. Sogar 95 Praxen lehnen demnach die Aufnahme älterer Kinder – etwa nach einem Umzug – ab. „Die Bedarfspla­nung ist völlig überholt“, schimpft Kinderarzt Lang. Dies gelte umso mehr, als sich die Versorgung­ssituation in den nächsten Jahren weiter zuspitze: Schon heute ist fast jeder vierte Kinderarzt älter als sechzig Jahre.

Ein Grund für die angespannt­e Situation in den Praxen seien die stark gestiegene­n Anforderun­gen: Allein die Zahl der Vorsorgeun­tersuchung­en sei in den letzten 25 Jahren von sechs auf 14 gestiegen. Die Zahl der vorgeschri­ebenen Impfungen wuchs in diesem Zeitraum von sieben auf bis zu 19, so die Kinderärzt­e. Auch stark zunehmende Krankheits­bilder wie Verhaltens­störungen seien in der Behandlung sehr zeitintens­iv.

Weil die Vorgaben und Budgets für Kinderärzt­e aber nur auf Bundeseben­e geändert werden können, waren sich die Gesundheit­sexperten aller Fraktionen im Landtag einig, dort mit deutlich mehr Nachdruck auf Veränderun­gen zu drängen.

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Foto: Bernd Wüstneck, dpa Die Zahl der Vorsorgeun­tersuchung­en bei kleinen Kindern hat sich stark er höht.

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