Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Notstand bei den Kinderärzten
Warum sich die Situation in den Praxen zuspitzt
Im Augsburger Rathaus ist man derweil nicht überrascht von den Zahlen aus dem Ministerium und der Tatsache, dass die eigenen Bürger nur 82 Prozent des bayernweiten Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. „Das verwundert nicht“, erklärt die für Finanzen zuständige Bürgermeisterin Eva Weber. Augsburg sei seit jeher industriell geprägt und ein Produktionsstandort vieler Großbetriebe – in der Regel aber nicht deren Firmensitz. „Mit anderen Worten: Die Mitarbeiter liegen tendenziell eher im unteren und mittleren Einkommensbereich“, sagt Weber.
Zudem komme dem urbanistischen Begriff des „Speckgürtels“in Augsburg eine besondere Bedeutung zu – in zweierlei Hinsicht. Gerade Besserverdienende würden die Möglichkeit nutzen, sich in stadtnahen Lagen anzusiedeln, ohne auf die Angebote der Großstadt verzichten oder längere Pendlerstrecken bewältigen zu müssen. Auf der anderen Seite wird die Stadt als Wohnort gerade für in München arbeitende Menschen immer attraktiver – unter anderem bedingt durch „exorbitante Wohnraumkosten im Großraum München“. Dieser Zuzug von Besserverdienern werde sich in den kommenden Jahren auch auf die Einkommen in Augsburg auswirken, ist Weber überzeugt.
Die Lage in und rund um die bayerischen Großstädte ist es, was die SPD im Landtag beunruhigt. Nach der Antwort auf ihre Anfrage zur Einkommensentwicklung stellte die Abgeordnete Ruth Müller fest: „Die Lebensverhältnisse in Bayern variieren immer noch sehr stark je nach Wohnort. Das ist für die Entwicklung Bayerns überaus negativ.“Durch die Ungleichheit ziehe es immer mehr Menschen in die Metropolregionen, wo insbesondere die Wohnungsnot immer größer werde. Auch, weil die Mieten dort schneller steigen als die Einkommen. Im Stadtgebiet München stieg das verfügbare Einkommen zwischen 2012 und 2015 um 4,2 Prozent – die Mieten laut des Immobilienverbandes Deutschland im gleichen Zeitraum um mehr als zehn Prozent.
Die Bestverdiener Bayerns wohnen nach den Angaben des Sozialministeriums übrigens im Landkreis Starnberg. Dort haben Einwohner monatlich 2907 Euro zur Verfügung – im Schnitt also rund 1300 Euro mehr als ein Augsburger. München Der Landtag will den politischen Druck auf die ärztliche Selbstverwaltung und die Bundespolitik erhöhen, um eine bessere Versorgung mit Kinderärzten in Bayern zu erreichen. „Denn es brennt in den Praxen an allen Ecken und Enden, in der Stadt und auf dem Land“, sagte der Freie-WählerLandtagsabgeordnete Karl Vetter im Rahmen eines Fachgespräches im Maximilianeum.
Zwar gibt es auf dem Papier in allen bayerischen Landesteilen eine rechnerische „Überversorgung“mit Kinderärzten – bezogen auf ein in den 1990er Jahren festgelegtes „angemessenes“Verhältnis zwischen Kindern und Kinderärzten in einer Region. Dieses liegt etwa in Städten mit großem Einzugsgebiet bei rund 2400 Kindern pro Kinderarzt, in Räumen mit guter Nahversorgung in benachbarten Ballungsräumen bei 4300 Kindern pro Kinderarzt.
Diese Planung sei bundesweit vorgegeben und durch die bayerische ärztliche Selbstverwaltung nicht zu beeinflussen, sagte Jochen Maurer von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB). So sei es etwa nicht möglich, bei einer rechnerischen Versorgung von mehr als 110 Prozent die Neuansiedlung weiterer Kinderärzte zuzulassen. Maurer räumte ein, „dass man darüber diskutieren kann, ob dieser Versorgungsgrad noch angemessen ist“. Denn auch der KVB sei nicht entgangen, „dass es überall in Bayern viele Beschwerden etwa über Terminvergaben gibt“.
Eine Formulierung, die aus Sicht von Dr. Martin Lang vom Kinderärzteverband Bayern bei weitem nicht ausreicht, um die reale Situation in den Praxen zu beschreiben: Diese sei vielerorts „unerträglich“, viele Kinderärzte würden von Patientenanfragen „überrannt“, so Lang. In einer internen Befragung hätten von 188 Kinderarzt-Praxen 60 angegeben, wegen Überlastung keine Neugeborenen mehr als Patienten aufzunehmen. Sogar 95 Praxen lehnen demnach die Aufnahme älterer Kinder – etwa nach einem Umzug – ab. „Die Bedarfsplanung ist völlig überholt“, schimpft Kinderarzt Lang. Dies gelte umso mehr, als sich die Versorgungssituation in den nächsten Jahren weiter zuspitze: Schon heute ist fast jeder vierte Kinderarzt älter als sechzig Jahre.
Ein Grund für die angespannte Situation in den Praxen seien die stark gestiegenen Anforderungen: Allein die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen sei in den letzten 25 Jahren von sechs auf 14 gestiegen. Die Zahl der vorgeschriebenen Impfungen wuchs in diesem Zeitraum von sieben auf bis zu 19, so die Kinderärzte. Auch stark zunehmende Krankheitsbilder wie Verhaltensstörungen seien in der Behandlung sehr zeitintensiv.
Weil die Vorgaben und Budgets für Kinderärzte aber nur auf Bundesebene geändert werden können, waren sich die Gesundheitsexperten aller Fraktionen im Landtag einig, dort mit deutlich mehr Nachdruck auf Veränderungen zu drängen.