Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wenn Autoritäten Sex verlangen
Missbrauch Der Klage-Lawine in der katholischen Kirche folgt die Klage-Lawine im Kulturbetrieb: Nun stehen die Schwedische Akademie und Dirigent James Levine im Verdacht
Das Ende dessen, was der Harvey-Weinstein-Skandal um sexuelle Belästigungen, sexuelle Nötigungen und um Vergewaltigungen speziell in der Filmbranche ins Rollen brachte, ist noch nicht abzusehen.
Nach der internationalen Missbrauchs-Lawine innerhalb der katholischen Kirche scheint nun auch eine internationale Lawine in der Kulturbranche losgetreten zu sein: Im Grunde ausnahmslos geht es darum, dass Männer aufgrund ihrer Stellung und Macht sexuelle Dienste erwarten oder erzwingen wollen von (meist jüngeren) Menschen, die mehr oder weniger von ihnen abhängig sind. In der katholischen Kirche – und im Sportverein – steht dabei das Schüler-(Lehrer-)Autoritäten-Verhältnis im Zentrum, im weltweiten Kulturbetrieb die sogenannte „Besetzungscouch“: Der Filmdirektor/Intendant/Regisseur besetzt und engagiert im schlimmsten Fall nur dann, wenn die Schauspielerin (oder der Schauspieler) auf der Couch seinen sexuellen Gelüsten nachkommt.
In Hashtags wie „Me too“und „Balancetonporc“(„Verpfeif’ dein Schwein“) haben ungezählte Frauen mittlerweile von ihren speziellen Erniedrigungen berichtet; in der vergangenen Woche nun sind zwei kapitale neue Anklagen dazugekommen: Die eine betrifft die Schwedische Akademie, die den LiteraturNobelpreis verleiht, sowie ihr Umfeld; die zweite betrifft den ehemaligen langjährigen Chefdirigenten der New Yorker Metropolitan Opera, James Levine. Damit erhält der Begriff der „Kulturbastion“neuerlich einen sarkastischen Unterton. Denn wieder ist der Fall gegeben, dass die mutmaßlichen oder tatsächlichen Opfer über lange Zeit schwiegen – wohl aus Angst vor den Konsequenzen einer öffentlichen Anklage – oder aus Scham. Noch schwerer aber wiegt, dass da wie dort auch wieder der Fall gegeben ist, das innerhalb der jeweiligen Szene existierende Verdachtsmomente über lange Zeit ungeklärt unter den Teppich gekehrt werden konnten.
In Stockholm, so berichten schwedische Zeitungen, habe der Mann eines weiblichen Akademiemitglieds über Jahrzehnte sexuell ausgenutzt, dass junge Frauen mit literarischen Interessen im gemeinsam betriebenen literarischen Verein mit Kellerlokal verkehrten. Ihnen habe er gegen sexuelle Leistungen ein literarisches Vorankommen in Aussicht gestellt – beziehungsweise bei Ablehnung des unsittlichen Angebots mit Verhinderung der Karriere gedroht. Als Ehemann eines weiblichen Mitglieds der Akademie, die alljährlich weit mehr Preise als den Literatur-Nobelpreis vergibt, nutzte der mutmaßliche Täter also den Glauben an seinen großen Einfluss auf die Entscheidungen der Akademie sexuell aus – und wurde dabei über Jahre wohl zumindest von einigen weiteren Akademiemitgliedern gedeckt.
Und Vergleichbares muss man skeptischerweise auch im Fall James Levine mutmaßen, sollten sich Vorwürfe des Missbrauchs seitens des weltweit gefeierten Dirigenten als berechtigt erweisen. Tatsache ist, dass in der Münchner Musikszene schon vor Jahrzehnten Erzählungen hinter vorgehaltener Hand über die Zuneigung Levines zu Knaben kursierten. Das beweist selbstverständlich gar nichts, hätte aber an der MET selbstverständlich Anlass zu genauer Beobachtung geben sollen. Doch erst jetzt will die Metropolitan Opera ernstlich prüfen, ob die Beschuldigungen wahr sind. Auch im Fall des heute 74-jährigen Levine sind New Yorker Zeitungsberichte das treibende Medium: Danach soll der Musikdirektor zwischen 1985 und 1993 einen zunächst Jugendlichen, dann jungen Erwachsenen, der seinerzeit Dirigent werden wollte, mit (mittlerweile verjährten) sexuellen Übergriffen drangsaliert haben – bis hin zum Küssen des Geschlechtsteils.
Den Vorwürfen liegt eine polizeiliche Aussage zugrunde. Man wird sehen, wie der Fall ausgeht. Rehabilitation – oder Bestätigung eines mehr oder weniger kollektiven, vielleicht sogar belustigten Hinwegsehens über die Neigungen des Chefs.