Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (20)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Midge seufzte noch einmal, und soweit ich mich erinnere, beließ sie es dabei, ging entweder wieder fort oder wechselte das Thema.

Mehr oder weniger aus denselben Gründen, aus denen ich nicht offen darüber zu sprechen wagte, was ich ihr mit meinem Gerede von den Verkaufsli­sten angetan hatte, konnte jetzt natürlich auch Ruth mir nicht danken, dass ich sie vor Midges Fragen gerettet hatte. Aber ihr Verhalten mir gegenüber, und zwar nicht nur während der nächsten Tage, sondern während der nächsten Wochen, zeigte deutlich, wie froh sie über mein Eingreifen war. Und da ich lange in ziemlich genau derselben Lage gewesen war wie sie jetzt, konnte ich natürlich die Zeichen lesen und wusste, dass sie nur auf einen Anlass wartete, um mir einen wirklich besonderen Gefallen zu erweisen. Das war ein schönes Gefühl, und ich weiß noch, dass ich ein- oder zweimal dachte, wie gut es wäre, wenn sich ewig lang keine Gelegenhei­t ergäbe, damit das gute Gefühl

zwischen uns anhielt. Aber etwa einen Monat nach dem Zwischenfa­ll mit Midge eröffnete sich Ruth eine Gelegenhei­t; das war, als mir meine Lieblingsk­assette abhanden kam.

Noch heute besitze ich ein Exemplar dieser Kassette, und bis vor kurzem hörte ich sie mir ab und zu an, wenn ich an einem Regentag über Land fuhr. Aber der Kassettenr­ekorder in meinem Auto ist so anfällig geworden, dass ich sie nicht mehr einzulegen wage. Und wenn ich in meiner kleinen Wohnung bin, ist die Zeit immer zu kurz, um sie ganz zu hören. Das ändert nichts daran, dass sie nach wie vor eines meiner kostbarste­n Besitztüme­r ist. Vielleicht werde ich sie am Ende des Jahres, wenn ich nicht mehr Betreuerin bin, öfter hören können.

Das Album von Judy Bridgewate­r heißt Songs After Dark. Meine heutige Ausgabe davon ist nicht mehr die ursprüngli­che Kassette, die ich in Hailsham hatte – diese ging verloren –, sondern eine ande- re, die Tommy und ich Jahre danach zufällig in Norfolk entdeckten. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt möchte ich von dieser ersten Kassette berichten, die ich verloren habe.

Aber bevor ich weitererzä­hle, sollte ich wohl erklären, was Norfolk damals für uns bedeutete. Über viele Jahre hinweg war es für uns eine Art Insider-Witz; begonnen hatte alles in einer Schulstund­e in unserer Anfangszei­t, als wir noch ziemlich klein waren.

Miss Emily persönlich nahm mit uns die verschiede­nen Grafschaft­en Englands durch. Dazu pflegte sie eine große Landkarte vor die Tafel zu hängen, und daneben stellte sie eine Staffelei.

Und wenn sie zum Beispiel über die Grafschaft Oxfordshir­e redete, hatte sie auf der Staffelei einen großformat­igen Kalender mit Fotos aus Oxfordshir­e platziert. Sie verfügte über eine beachtlich­e Kalendersa­mmlung, und anhand dieser Fotos lernten wir die meisten Grafschaft­en kennen. Sie klopfte mit dem Zeigestab auf einen Punkt, wandte sich zur Staffelei und zeigte uns ein neues Bild. Da gab es kleine Dörfer, durch die ein Bach führte, weiße Monumente auf Hügeln, alte Kirchen am Wegesrand; wenn sie uns von einem Ort an der Küste erzählte, bekamen wir menschenüb­erfüllte Strände und Klippen mit Möwen zu sehen. Wahrschein­lich wollte sie uns einen Begriff davon vermitteln, was es dort draußen alles gab, und noch heute, nach den endlosen Meilen, die ich als Betreuerin zurückgele­gt habe, finde ich es erstaunlic­h, wie sehr meine Vorstellun­g der verschiede­nen Grafschaft­en von den Bildern geprägt ist, die uns Miss Emily auf ihrer Staffelei zeigte. Wenn ich heute durch Derbyshire fahre, ertappe ich mich dabei, wie ich nach einem bestimmten Dorfanger mit einem Pub in Pseudo-Tudorstil und einem Kriegerden­kmal Ausschau halte – bis mir wieder einfällt, dass dies das Bild ist, das uns Miss Emily gezeigt hat, als ich zum ersten Mal von der Existenz Derbyshire­s hörte.

Allerdings klaffte in Miss Emilys Kalendersa­mmlung eine Lücke: Von Norfolk bekamen wir nie auch nur ein einziges Photo zu sehen. Dieser Unterricht­sstoff wurde noch mehrmals wiederholt, und ich fragte mich immer, ob sie wohl diesmal ein Bild von Norfolk aufgetrieb­en hatte, aber es war immer dasselbe. Ihr Zeigestab wanderte über die Landkarte, und als wäre es ihr nachträgli­ch eingefalle­n, sagte sie: „Und hier haben wir Norfolk. Sehr hübsch ist es da.“

Ich weiß noch, dass sie jedoch einmal bei einer solchen Gelegenhei­t plötzlich verstummte und in Gedanken versank, vielleicht weil sie vorher nicht darüber nachgedach­t hatte, wie es ohne Photo weitergehe­n sollte. Dann tauchte sie aus ihrer Trance wieder auf und klopfte noch einmal auf die Landkarte.

„Seht ihr, weil es dort draußen im Osten sitzt, auf diesem Höcker, der ins Meer hineinragt, liegt es abseits von allen Reiseroute­n. Die Leute fahren nach Norden und nach Süden“– sie fuhr mit dem Zeigestab auf und nieder –, „und Norfolk liegt einfach nicht auf ihrer Strecke. Deshalb ist es eine friedliche Ecke von England, ziemlich schön. Aber irgendwie ist es auch ein verlorener Winkel.“

Ein verlorener Winkel. So nannte sie es, und damit fing es an.

Wir hatten in Hailsham ebenfalls einen „verlorenen Winkel“, so nannten wir nämlich das Fundbüro oben im dritten Stock, wohin jeder ging, der etwas verloren oder gefunden hatte. Jemand – ich weiß nicht mehr, wer es war – behauptete nach dieser Stunde, Miss Emily habe Norfolk als das Fundbüro von ganz England bezeichnet, wohin von überall her die verlorenen Sachen gebracht würden. Irgendwie setzte die Idee sich durch und erlangte in unserem ganzen Jahrgang den Status einer allgemein anerkannte­n Tatsache.

Als wir vor nicht allzu langer Zeit das alles wieder ausgruben, behauptete Tommy, die Norfolk-Geschichte sei von Anfang an ein Witz gewesen, den wir nie ernsthaft geglaubt hätten. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Tommy in diesem Punkt irrt. Natürlich war Norfolk, als wir zwölf oder dreizehn Jahre alt waren, ein Witz geworden. Aber nach meiner Erinnerung – die sich mit der von Ruth deckt – hatten wir Norfolk anfänglich durchaus wörtlich als Sammelstel­le für Fundsachen aufgefasst. Wir stellten uns vor, dass so, wie die Lieferwage­n mit Nahrungsmi­tteln und Waren für den Basar nach Hailsham kamen, etwas Ähnliches, freilich in viel größerem Umfang, im ganzen Land stattfinde­n müsste, dass also Lastwagen aus ganz England alles, was auf Straßen und Feldern und in Zügen liegen geblieben war, in diese Gegend namens Norfolk transporti­erten. Dass wir nie ein Bild dieser Grafschaft gesehen hatten, ließ sie uns nur umso mystischer scheinen.

So töricht das alles klingen mag, sollten Sie aber bedenken, dass für uns, in dieser Phase unseres Lebens, jeder Ort außerhalb von Hailsham einem Phantasiel­and glich; wir hatten nur sehr verschwomm­ene Vorstellun­gen von der Außenwelt und dem, was dort möglich oder nicht möglich war. »21. Fortsetzun­g folgt

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