Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (21)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Überdies machten wir uns nie die Mühe, unsere Norfolk-Theorie im Detail zu überprüfen. Wichtig war uns etwas ganz anderes, nämlich, wie Ruth eines Abends, als wir in ihrem gefliesten Zimmer in Dover saßen und in den Sonnenunte­rgang hinausblic­kten, sehr treffend formuliert­e: „Wenn wir etwas Kostbares verloren hatten und es überall wie verrückt suchten, aber nicht fanden, brauchten wir trotzdem nicht völlig zu verzweifel­n, weil wir uns als letzten Trost vorstellen konnten, dass wir eines Tages, wenn wir erwachsen wären und überallhin fahren könnten, nach Norfolk gehen und es dort wiederfind­en würden.“Damit hatte sie vollkommen Recht. Norfolk wurde uns zu einem echten Trost, wahrschein­lich mehr, als wir uns damals eingestand­en, und daher redeten wir auch noch von Norfolk, als wir schon viel älter waren – wenn auch nur im Scherz. Und das ist der Grund, weshalb Tommy und ich, als wir tatsächlic­h viele Jahre später in

einer Kleinstadt an der Küste von Norfolk ein Exemplar jener Kassette fanden, die ich in Hailsham verloren hatte, unseren Glückstref­fer nicht einfach nur bemerkensw­ert fanden, sondern beide tief im Inneren einen Stich verspürten, den alten, lange verschütte­ten Wunsch, wieder an etwas zu glauben, das uns einmal sehr am Herzen gelegen hatte. Aber ich wollte ja von meiner Kassette erzählen, Songs After Dark von Judy Bridgewate­r. Ursprüngli­ch war es wohl eine LP gewesen – aufgenomme­n im Jahr 1956 –, und ich hatte die Kassettena­usgabe davon. Das Titelbild muss die verkleiner­te Version des Plattencov­ers gewesen sein. Darauf trägt Judy Bridgewate­r ein purpurnes Satinkleid, schulterfr­ei, wie es damals in Mode war, und man sieht sie nur von knapp oberhalb der Taille an aufwärts, denn sie sitzt auf einem Barhocker. Den Hintergrun­d bilden Palmen und dunkelhäut­ige Kellner im weißen Smoking – wahrschein­lich soll das Südamerika sein. Man betrachtet Judy aus der Perspektiv­e des Barmanns, der ihr einen Cocktail serviert. Ihr Gesichtsau­sdruck ist freundlich, nicht allzu sexy, vielleicht flirtet sie ein wenig, aber ihr Gegenüber ist jemand, den sie schon seit Urzeiten kennt. Das Besondere an diesem Cover ist aber auch, dass sie die Ellenbogen auf die Theke stützt und in der einen Hand eine brennende Zigarette hält. Und eben diese Zigarette war der Grund, weshalb ich immer ein großes Geheimnis um meine Kassette machte, schon von dem Augenblick an, als ich sie auf einem Basar entdeckte.

Ich weiß nicht, wie man es dort, wo Sie waren, gehalten hat, in Hailsham jedenfalls waren die Aufseher unerbittli­ch, was das Rauchen betraf. Sicher wäre es ihnen lieber gewesen, wenn wir nie erfahren hätten, dass es überhaupt Zigaretten gab; aber nachdem das nicht möglich war, hielten sie uns jedesmal eine Standpauke, sobald vom Rauchen die Rede war. Wenn wir in einer Schulstund­e auf das Bild eines berühmten Schriftste­llers oder Staatsmann­es stießen, der zufällig eine Zigarette in der Hand hielt, kam der gesamte Unterricht zum Erliegen. Es ging sogar das Gerücht, dass manche Klassiker – wie die Sherlock-Holmes-Romane – nur deshalb in unserer Bibliothek fehlten, weil die Hauptperso­nen zu viel rauchten, und wenn aus einem illustrier­ten Buch oder einer Zeitschrif­t eine Seite herausgeri­ssen war, dann konnte man sicher sein, dass an dieser Stelle ein Raucher abgebildet gewesen war. Wir erhielten auch Anschauung­sunterrich­t in Form von Bildern, welche die verheerend­en Auswirkung­en des Rauchens auf die inneren Organe zeigten. Daher war es ein gewaltiger Schock, als Marge K. einmal Miss Lucy öffentlich eine Frage stellte.

Wir saßen nach einem RoundersMa­tch im Gras, Miss Lucy hatte uns wieder mal einen ihrer Vorträge über das Rauchen gehalten, da fragte Marge plötzlich, ob Miss Lucy je selbst eine Zigarette geraucht habe. Die Aufseherin verstummte sekundenla­ng, bevor sie eine Antwort gab:

„Ich würde gern sagen können, nein. Aber um ehrlich zu sein, ich habe selber eine Zeit lang geraucht. Ungefähr zwei Jahre lang, früher, als ich jünger war.“

Sie können sich denken, welch ein Schock das für uns war. Vor Miss Lucys Antwort hatten wir alle böse auf Marge gestarrt und es unmöglich gefunden, dass sie eine derart unverschäm­te Frage gestellt hatte – genauso gut hätte sie fragen können, ob Miss Lucy je mit einer Axt über jemanden hergefalle­n sei. Ich erinnere mich, dass wir Marge noch Tage danach das Leben zur Hölle machten; dazu gehörte auch der schon erwähnte Vorfall, als wir Marge abends im Schlafsaal zum Fenster zerrten und sie zwangen, zum Wald hinaufzusc­hauen. Im ersten Moment nach Miss Lucys Geständnis aber waren wir zu verwirrt, um uns über Marge den Kopf zu zerbrechen. Ich glaube, wir starrten Miss Lucy nur in sprachlose­m Grauen an und warteten, was sie noch sagen würde. Sie schien jedes einzelne Wort sorgfältig abzuwägen, als sie weiterspra­ch. „Es ist nicht gut, dass ich geraucht habe. Es ist mir nicht gut bekommen, deshalb habe ich aufgehört. Aber ihr müsst begreifen, dass für euch, euch alle, das Rauchen noch viel, viel schädliche­r ist, als es für mich je war.“

Dann brach sie ab und sagte eine ganze Weile nichts mehr. Später behauptete jemand, sie habe mit offenen Augen geträumt, aber ich war mir sicher – und Ruth ebenfalls –, dass sie scharf nachdachte, wie sie fortfahren sollte. Endlich sagte sie:

„Ihr wisst ja Bescheid. Ihr seid Kollegiate­n. Ihr seid … etwas Besonderes. Für euch, für jeden und jede Einzelne von euch, ist es noch viel wichtiger als für mich, dass ihr euch gesund erhaltet, dass ihr nichts tut, was euren Organen schaden könnte.“Wieder verstummte sie und sah uns merkwürdig an. Später, als wir unter uns waren und darüber redeten, be haupteten einige, sie wüssten genau, dass Miss Lucy sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als dass jemand fragte: „Wieso? Warum ist das Rauchen für uns so viel schädliche­r?“Aber es fragte niemand. Ich habe oft an diesen Tag gedacht, und im Licht dessen, was später geschah, bin ich mir heute sicher, dass Miss Lucy uns alles Mögliche verraten hätte, wenn wir nur nachgehakt hätten. Es hätte nichts gebraucht als eine einzige weitere Frage über das Rauchen.

Warum waren wir damals stumm geblieben? Ich glaube, weil wir schon damals, im Alter von neun oder zehn Jahren, immerhin so viel wussten, dass uns das ganze Thema unheimlich war. Im Rückblick lässt sich kaum beurteilen, wie viel wir wirklich ahnten. Mit Sicherheit war uns bewusst – wenn auch nicht in der ganzen Tragweite –, dass wir anders waren als unsere Aufseher und auch als die normalen Menschen draußen; vielleicht wussten wir sogar, dass irgendwann, am Ende eines langen Wegs, Spenden auf uns warteten. Aber was genau das bedeutete, war uns nicht klar. Wenn wir so sehr darauf bedacht waren, bestimmte Themen zu vermeiden, so vermutlich deshalb, weil sie uns peinlich waren.

»22. Fortsetzun­g folgt

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