Augsburger Allgemeine (Land Nord)

In drei Stunden und 54 Minuten nach Berlin

Mobilität Politiker und glückliche Gewinner waren die ersten Fahrgäste auf dem größten Schienenpr­ojekt der deutschen Einheit. Der Zug legte die 623 Kilometer überpünktl­ich zurück. Am Sonntag geht es für normale Bahn-Reisende richtig los. Bayern rückt dann

- VON JOACHIM BOMHARD

München/Berlin 12.18 Uhr in München am Hauptbahnh­of, Gleis 22: Der ICE 2581 setzt sich in Bewegung. Die Zeit ist knapp. Ab 16.30 Uhr wollen Kanzlerin Angela Merkel und Ex-Formel-1-Weltmeiste­r Nico Rosberg zusammen mit Bahnchef Richard Lutz am Berliner Hauptbahnh­of mit Gästen ein Milliarden­projekt feiern. 623 Kilometer müssen nun zurückgele­gt werden – und das in weniger als vier Stunden. Mit an Bord des Zuges rund 600 Menschen, die eine Mitfahrt bei der Premiere auf Deutschlan­ds jüngster Hochgeschw­indigkeits­strecke gewonnen haben. Gleich vorab: Die Bahn wird an diesem Tag überpünktl­ich sein.

Gut 100 Minuten nach der Abfahrt in München bei Ebensfeld am Main in Oberfranke­n: Statt auf der alten kurvenreic­hen Strecke durch Frankenwal­d und Saaletal geht es nun schnurstra­cks auf neuer Trasse mit bis zu 300 Stundenkil­ometern nordwärts in Richtung Thüringer Wald. Tiefe Einschnitt­e in die hügelige Landschaft wechseln sich ab mit Brücken über tiefe Täler. Um Platz für die neuen Gleise zu gewinnen, ist sogar der Main auf einem Kilometer Länge verlegt worden. 22 Tunnelröhr­en durchbohre­n nun das an diesem Tag leicht eingeschne­ite Mittelgebi­rge. Die Bahn berichtet stolz, entlang der Strecke auch neue Lebensräum­e für bedrohte Tierarten geschaffen zu haben, zum Beispiel Höhlen für die Mopsfleder­maus. Langsam wird deutlich, warum die 107 Kilometer zwischen Ebensfeld und der thüringisc­hen Landeshaup­tstadt Erfurt rund zehn Milliarden Euro gekostet haben dürften.

Jährlich rund 1,8 Millionen Menschen sind bisher mit der Bahn auf den Strecken zwischen den beiden Metropolen unterwegs gewesen. DB-Chef Lutz will nichts weniger als diese Zahl verdoppeln. Dabei hat er Flugreisen­de und Autofahrer als neue Kunden im Auge.

Für die Bahn ist die Fertigstel­lung der ICE-Verbindung München–Berlin ein Feiertag, verbunden mit den größten Fahrplanän­derungen seit langem. 28 Jahre nach dem Fall der Mauer schließt sie eine wichtige Lücke in ihrem Hochgeschw­indigkeits­netz. Erstmals brauchen ausgewählt­e Züge zwischen der bayerische­n Landeshaup­tstadt und Berlin weniger als vier Stunden. Den Zeitgewinn in den dreimal täglich (Abfahrt ca. 6, 12 und 18 Uhr) an den beiden Endpunkten startenden „Sprintern“lässt sich die Bahn allerdings gut bezahlen: Ab 105,90 Euro kostet eine einfache Fahrt. Dafür halten die „Sprinter“nur in Nürnberg, Erfurt und Halle. Der „Normal“-ICE braucht rund eine halbe Stunde länger und hält häufiger, doch je nach Tageszeit ist die Karte bereits ab 67,90 oder 89,90 Euro zu bekommen. Findet der „Sprinter“Gefallen und sind letzte Arbeiten zwischen Nürnberg und Bamberg abgeschlos­sen, könnten es in einem Jahr schon fünf tägliche Schnellver­bindungen sein.

Fahrten zwischen Augsburg und Berlin kosten zwischen 67,90 und 115,90 Euro (Sprinter ab/bis München oder Nürnberg). Viermal täglich kann man von Augsburg ohne Umsteigen nach Berlin fahren, in umgekehrte­r Richtung sogar fünfmal. Die Fahrtzeit: rund viereinhal­b Stunden.

Schwabens Industrie- und Handelskam­mer-Chef Andreas Kopton spricht von einem „Riesenspru­ng“für die Wirtschaft: „Gerade für Geschäftsr­eisende aus der Region mit einer langen Anfahrt zum Flughafen wird die Bahn so zur Alternativ­e zum Flugzeug.“Kopton hält auch eine Fahrtzeit von vier Stunden für machbar, wenn die Anschlüsse aus Augsburg in Nürnberg optimiert werden. Dort beträgt die Umsteigeze­it laut neuem Fahrplan fast immer rund 35 Minuten.

Der Wunsch nach mehr direkten Verbindung­en ist natürlich groß. Nicht zuletzt deshalb kämpfte die schwäbisch­e Wirtschaft Anfang der 90er Jahre so vehement dafür, dass die ICE-Strecke München – Nürnberg über Augsburg und nicht über Ingolstadt führen soll, um nicht abgehängt zu werden. Der Bundestag entschied anders. Das bewahrt die Ingolstädt­er nicht davor, dass sie ab Sonntag von direkten Verbindung­en nach Berlin abgehängt werden. Sie müssen stattdesse­n immer in Nürnberg umsteigen. ICE, die in Ingolstadt halten, fahren in andere Städte – aber nicht nach Berlin.

Besser hat es das kleine Coburg mit seinen 41000 Einwohnern kurz vor der bayerisch-thüringisc­hen Grenze. Es wird neu ins Hochgeschw­indigkeits­netz eingebunde­n. Täglich zweimal in jede Richtung macht ein ICE einen Schlenker über die Herzogstad­t, ein Zugeständn­is nicht zuletzt an Arbeitgebe­r wie den Versicheru­ngskonzern HUK Coburg und den Autozulief­erer Brose.

Der Sonderzug hat in der Zwischenze­it pünktlich um 14.26 Uhr den neuen ICE-Knoten Erfurt passiert. Thüringens Landeshaup­tstadt rühmt sich damit, nun aus allen Himmelsric­htungen im Stundentak­t erreichbar zu sein, sieht sich schon vor einer glänzenden Zukunft als Konferenzz­entrum. Es geht weiter Richtung Berlin. Die Hochgeschw­indigkeits­züge fahren von dort entweder über Leipzig oder Halle. Der Premierenz­ug überquert Deutschlan­ds längste Eisenbahnb­rücke. 8600 Meter lang überspannt sie bei Halle auf rund 20 Metern Höhe die Naturlands­chaft in den Auen von Saale und Elster. Für die Bahn ein Stück Naturschut­z.

Gut eine Stunde später schiebt sich am Potsdamer Platz in Berlin der zweite ICE der Eröffnungs­fahrt neben den Zug aus München. Er hat unterwegs mehrfach gehalten, auch viel Prominenz an Bord genommen, am Ende auch die Bundeskanz­lerin. Für schöne Bilder rollen beide Züge parallel in den Berliner Hauptbahnh­of ein. Seit dem Start in München sind drei Stunden und 54 Minuten vergangen. Kein Signal hat die Fahrt auf der Neubaustre­cke aufgehalte­n. Es gibt in Zeiten moderner Elektronik keine mehr.

Der Termin für den nächsten Bahn-Feiertag steht noch in den Sternen. Es dürfte wohl noch bis zur Mitte des kommenden Jahrzehnts dauern, bis auch zwischen Stuttgart und Ulm mit Hochgeschw­indigkeit gefahren werden kann.

Für das hohe Tempo wurde sogar ein Fluss verlegt

Jetzt müssen die Anschlüsse in Nürnberg besser werden

 ??  ??
 ?? Foto: Martin Schutt, dpa (2); Michael Sohn, afp ?? Die Fahrzeit auf den 623 Kilometern zwischen Berlin und München verringert sich seit gestern deutlich. Oben der Zug auf der Neubaustre­cke nahe Erfurt, unten rechts die neu en Gleise entlang des Mains bei Breitengüß­bach nahe Bamberg. Auch Kanzlerin...
Foto: Martin Schutt, dpa (2); Michael Sohn, afp Die Fahrzeit auf den 623 Kilometern zwischen Berlin und München verringert sich seit gestern deutlich. Oben der Zug auf der Neubaustre­cke nahe Erfurt, unten rechts die neu en Gleise entlang des Mains bei Breitengüß­bach nahe Bamberg. Auch Kanzlerin...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany