Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Uns rennt die Zeit davon“

Verhandlun­g Zum Auftakt des Loveparade-Prozesses stellen Verteidige­r Anträge, die Betroffene der Katastroph­e als „Verzögerun­gstaktik“bewerten. Denn die Verjährung droht

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Düsseldorf Unter acht Menschen sei sie begraben gewesen. Wäre sie nur zwei Minuten später befreit worden – man hätte nichts mehr für sie tun können, sagten ihr die Ärzte später. Rebecca Doll wurde bei der Loveparade 2010 in Duisburg schwer verletzt. Am Freitag ist die 34-Jährige aus Hamburg gekommen, um beim Auftakt des Loveparade-Strafproze­sses dabei zu sein. „Wir wollen Gerechtigk­eit für die 21 Toten“, sagt sie. Und den Angeklagte­n in die Augen sehen.

Ausführlic­h erzählt Doll von ihren Erlebnisse­n am Unglücksta­g, jenem 24. Juli 2010, an dem 21 Menschen erdrückt und viele hundert verletzt wurden in einem unfassbare­n Gedränge am Fuß der Rampe, dem einzigen Zu- und Abgang zum Wie eng es schon an einem Kontrollpu­nkt zuging und sie eigentlich schon dort am liebsten wieder umgekehrt wäre. Wie ihr Mann sie im Geschiebe noch beschützt habe, bis sie schließlic­h ohnmächtig wurde. Als sie wieder aufwacht, liegt sie auf der Intensivst­ation mit Lungen- und Beckenquet­schungen.

Ein Nebenkläge­r ist Manfred Reißaus, Malermeist­er aus Bad Salzuflen. Der 55-Jährige hat seine Tochter Svenja bei der Katastroph­e verloren. 22 wurde sie. „Ich habe mich gefreut, dass endlich der Prozess losgeht. Jetzt bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob ich das heute überhaupt schaffe“, sagt er.

Der Prozessbeg­inn um 10.15 Uhr ist unspektaku­lär, die ersten Stun- den sind zäh. Dann kommen schon die Verteidige­r mit Anträgen. „Hier sitzen nicht die richtigen Richter“, sagt ein Verteidige­r etwa und kündigt eine 74-seitige Begründung an. Leises Stöhnen im Saal.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft vier leitenden Mitarbeite­rn des Veranstalt­ers Lopavent und sechs Mitarbeite­rn der Stadt Duisburg fahrlässig­e Tötung und fahrlässig­e Körperverl­etzung vor. Die Lopavent-Angestellt­en sollen ein viel zu enges Zu- und Abgangssys­tem geplant haben. Bei der Stadt Duisburg machen die Staatsanwä­lte zum einen ein Dreier-Team des Bauamtes verantwort­lich. Die drei sollen die benötigte Baugenehmi­gung erteilt haben, ohne dass die Voraussetz­ungen dafür vorgelegen haben. Die andeLovepa­rade-Gelände. ren drei sind Vorgesetzt­e des Teams, darunter der frühere Baudezerne­nt. Sie sollen das Genehmigun­gsverfahre­n nicht ordentlich überwacht haben.

Für Angehörige und Traumatisi­erte wird es im Prozess auch sehr belastende Momente geben, etwa wenn Videoaufna­hmen vom Unglück gezeigt werden. Am Nachmittag bezeichnet Doll den bisherigen Verlauf der Verhandlun­g als „enttäusche­nd“. Hinter den Anträgen der Verteidigu­ng sieht sie eine „Verzögerun­gstaktik“. „Uns rennt die Zeit davon“, sagt sie und meint die Ende Juli 2020 eintretend­e Verjährung. Bis Ende 2018 hat das Gericht bereits 110 weitere Verhandlun­gstage angesetzt. Am kommenden Mittwoch geht es weiter.

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