Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Zauber des Zuhörens
halte: Wer zu oft Falsches über die Welt berichtete, fiel auf und flog.
Doch schon vor diesen für Adel, Klerus und Militärs professionell erstellten Zeitungen gab es einen Nachrichtenfluss. Angestellte Boten liefen kreuz und quer durch Europa, um auf den wichtigsten, schon seit dem Spätmittelalter bekannten Handelswegen Schriften zu transportieren. Bereits im 14. Jahrhundert machten die Kurierdienste im Deutschen Reich sogar den Boten aus Venedig Konkurrenz. Beschleunigung setzte im 15. und 16. Jahrhundert ein: Die Kaufleute des Reichs führten Stafettenreitereien und neue Posthäuser ein, in denen frische Pferde und Boten warteten. Von Antwerpen bis Augsburg war eine Nachricht jetzt sechs Tage unterwegs. In Venedig war dieselbe Neuigkeit zwölf Tage alt, von Augsburg bis Madrid vergingen zwei bis drei Wochen.
Augsburg hatte Glück: Die Stadt war bereits im Spätmittelalter ökonomisch erfolgreich, unabhängig von Obrigkeiten, sie lag zentral zwischen den wichtigen niederländischen Handels- und Schifffahrtszentren und den rührigen Oberitalienern. Dadurch hatte die Stadt mehr noch als Nürnberg direkten Anschluss an das europäische und überseeische Nachrichtennetz. Maximilian I. ließ zudem das erste Posthaus des Reiches in Augsburg, am Wertachbrucker Tor, bauen. Einmal pro Woche trafen hier Boten aus aller Welt ein und gaben ihre Depeschen an die nächste Reiterstaffel weiter. Auch die hiesigen Drucker setzten sich im 16. Jahrhundert schnell an die Produktionsspitze des Reichs und lieferten im Auftrag der Handelshäuser Einblattdrucke samt Zeichnungen und gekürzten Texten der Schreiber und Korrespondenten. Die Themen: Neues aus Brasilien, Augsburger Windhosen, Gewürzpreise in Antwerpen, Mordserien aus der Region, politische Entwicklungen und Kriegsnachrichten aus den Niederlanden und Ungarn.
Der Boom der Serienzeitungen endete im 17. Jahrhundert. Augsburg verlor seine Vorreiterstellung als Medienstandort an die Handelsstädte Hamburg und Bremen.
Sonntagmorgen auf der Autobahn. Aus dem Radio tönt das Anfangskapitel aus Salman Rushdies neuem Roman „Golden House“, vor dem Auge verwandelt sich die schwäbische Landschaft ins New Yorker Greenwich Village und gleich ist man mittendrin in dieser fantastischen Geschichte um den „indischen Paten“Nero Golden und seine vier Söhne. Eine halbe Stunde später steigt man mit dem festen Vorsatz aus dem Auto, demnächst Rushdie zu lesen.
Sonntag, später Nachmittag, wieder große Literatur im Radio, diesmal winterliche Szenen aus Tolstois „Anna Karenina“und Jack Londons „Ruf der Wildnis“und wieder weiß man, durch welche Bücher man demnächst schmökern möchte.
Nein, dies soll jetzt keine Eloge auf das Radiohören werden. Aber auf die betörende Wirkung des Vorlesens. Dass dies die Begeisterung fürs Selberlesen weckt, weiß man aus vielen Studien zur kindlichen Leseförderung. Ganz abgesehen davon erliegt man aber auch als Erwachsener dem besonderen Reiz, sich einen Text ins Ohr gehen zu lassen, sich in dieser verschworenen Gemeinschaft zwischen Autor, Sprecher und Zuhörer einzurichten.
Deshalb ist dies gleichzeitig auch ein Abgesang auf eine Augsburger Veranstaltungsreihe, die genau diesen Zauber des Vorlesens kultivierte: die „Vorleserei“im Ballettsaal im Kulturhaus Abraxas. Ein knappes Jahr lang pflegten der ehemalige Buchhändler Albert Schmid und seine drei Mitstreiter diesen Brauch, doch mit der Zeit ebbte das Publikumsinteresse ab. Während die Veranstaltung in Schwabmünchen über viele Jahre sehr großen Erfolg hatte, wollten sich die Augsburger offenbar nicht darauf einlassen. Wie schade!
*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolumne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefallen ist.