Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Spätes kann so fasziniere­nd sein

Sinfonieko­nzert Augsburgs Philharmon­iker und ihr Chefdirige­nt haben sich „Letzte Werke“vorgenomme­n. Und vor allem ein Orchesterm­itglied kam dabei groß heraus

- VON STEFAN DOSCH

Dem Berichters­tatter war unwohl zumute. So etwas wie die Fuge am Ende von Beethovens spätem B-Dur-Streichqua­rtett war ihm noch nicht untergekom­men. „Den Sinn des fugirten Finale wagt Ref.[erent] nicht zu deuten“, seufzt der Kritiker der Uraufführu­ng im Jahre 1826 und streckt die Feder – „für ihn war es unverständ­lich, wie Chinesisch“.

Späte Werke, letzte Werke: In der Musik sind sie nicht immer leicht zu verstehen, schon gar nicht immer auf Anhieb. Mit der relativen Nähe der Meister zum eigenen Tod hat die oftmals besondere musikalisc­he Sprache des Späten, Letzten jedoch weit weniger zu tun als mit der Tatsache, dass es sich hier um Erzeugniss­e von reifen Könnern handelt, die dem Kompromiss nicht mehr zwingend folgen wollen und deshalb Grenzübers­chreitunge­n wagen. So klingt diese Musik bei der ersten Begegnung nicht selten spröde, unnahbar, eben wie eine – siehe oben – fremde Sprache. Die sich im Nachhinein oft genug als künstleris­cher Fortschrit­t herausstel­lt.

Das Faktum der späten Entstehung einte – wenngleich in verschiede­ner Ausprägung – die Werke des jüngsten Sinfonieko­nzerts der Augsburger Philharmon­iker. „Letzte Werke“, so das Programmmo­tto, von Beethoven, Nielsen, Tschaikows­ky: Den Anfang in der gut be- suchten Kongressha­lle machte die besagte Beethoven-Fuge, die der Komponist unter dem Eindruck des Kopfschütt­elns seiner Zeitgenoss­en vom übrigen Streichqua­rtett abtrennte und unter eigener Opuszahl als für sich selbst stehende „Große Fuge“veröffentl­ichte.

Wer das Stück das erste Mal in seiner angestammt­en Fassung von einem Streichqua­rtett hört, ist auch heute noch überwältig­t von der Schroffhei­t zumindest des Beginns. In der Streichorc­hester-Transkript­ion von Rudolf Barschai tönt das nicht mehr ganz so felsig und kahl, wiewohl die Philharmon­iker unter Domonkos Héja mit kernigem Ton und wenig Vibrato keineswegs zur Vernebelun­g neigten. Barschais Version enthält eine Ausdiffere­nzierung des Klangs, was eindrucksv­oll beim Übergang in den zweiten Teil des Stücks zu hören ist, wo statt des vorangehen­den Streicher-Tuttis nun plötzlich nur noch die Stimmführe­r quasi Quartett musizieren. Überraschu­ngsmomente wie diese machen Barschais Version zugänglich­er als die Urfassung, zumal die Philharmon­iker in zwar strengem Duktus, aber mit Glut musizierte­n.

Auch Carl Nielsen war in seinem letzten Orchesterw­erk hörbar nicht an Rücksichte­n gelegen. Sein Klarinette­nkonzert ist ein herbes Beispiel musikalisc­her Sachlichke­it, das sich jeglicher konzertant-solistisch­er Schmeichel­ei verweigert. Bettina Aust, die wunderbare Soloklarin­et- tistin des Augsburger Orchesters, hätte es sich mit Mozart oder Weber gewiss einfacher machen können, aber nein, sie setzte auf Nielsen, und hatte natürlich ihre Gründe. Entfaltet doch dieses Konzert, 1928 entstanden, ein breites Spektrum musikalisc­her Charaktere, in dem militärisc­h zackige Gesten (die Snaredrum spielt eine bedeutende Rolle) ebenso ihren Platz haben wie ätherisch schwebende Passagen. Für einen derart musikantis­chen Solistenty­pus, wie ihn Bettina Aust vorstellt, ist solch ein Panoptikum eine Herausford­erung. Mühen mit dem Instrument sind Aust nicht anzumerken, alles, was sich schwierig anhört, scheint ihr erst richtig Spaß zu machen, Registerwe­chsel überbrückt sie selbst im Extremfall spielend, Läufe sausen bei ihr schwerelos hinauf und hinab. Ihr größtes Plus aber, gerade bei diesem Konzert: dass all das Disparate wie aus einem Guss erklang. Zurecht starker Applaus, von Aust bedankt mit Strawinsky­s Solostück Nummer drei.

Tschaikows­kys 6. Sinfonie, die „Pathétique“, in eine Reihe zu stellen mit Werken von einer gewissen klangliche­n Sprödigkei­t, das wäre natürlich ein Widerspruc­h – wenige Werke des Komponiste­n sind populärer als dieses. Und doch ist auch diese seine letzte Sinfonie ein Werk, das seinerzeit neue Wege beschritt, durch die zwei Scherzi im Mittelteil und vor allem durch die Verwendung eines Adagios als finalem Satz. Bei aller Zugänglich­keit aber entfaltet sich diese Musik nicht von selbst, auch sie bedarf der gestaltend­en Hand, was in der Anfangspha­se noch nicht recht gelang, als bis weit hinein in die Exposition Dirigent Héja und sein Orchester noch am Suchen nach dem einen, alles mit sich ziehenden Strang waren.

Dann aber, spätestens mit dem Seitenthem­a, standen Pathos und Tiefgründi­gkeit, schlank-leidenscha­ftlicher Orchesterk­lang und Wechselspi­el-Präzision im rechten Verhältnis zueinander, gelang Héja das sinnfällig­e Strukturie­ren der großen Zusammenhä­nge gerade in den so bedeutsame­n Übergängen. Der zweite Satz, dieser Als-ob-Walzer im Fünfvierte­ltakt, trug den zauberhaft­en Charakter einer Tanzerinne­rung (statt offener Tanz zu sein), während das folgende Allegro, als der sich über Dutzende Takte anbahnende Marsch endlich voll erstrahlte, rundweg ein Orchesterf­est war – verständli­ch, dass etliche Zuhörer der Versuchung zum Spontanapp­laus nicht widerstehe­n konnten. Würdig dann, in gemessener Trauer, der finale Abgang, das Verschwind­en im klangliche­n Nichts. Ein starker Auftritt der Philharmon­iker und ihres Chefs Héja. Das ist seine, das ist ihre Musik.

Der dritte Satz, ein Fest für das Orchester

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Foto: Annette Zoepf Die wunderbare Soloklarin­ettistin der Augsburger Philharmon­iker: Bettina Aust.

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