Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der lange Weg der Weihnachtsbombe
Entschärfung Was war das für ein Weihnachtsfest 2016 für die Augsburger: Bombenfund, Evakuierung, Ausnahmezustand. Heute kommen die Menschen, um den Sprengkörper zu besichtigen. Und erzählen sich, wie an jenem Tag sogar Freundschaften entstanden
Augsburg Friedhelm Bechtel kann sich nicht erinnern, dass er jemals so froh war wie an diesem Tag. Der Sprecher der Augsburger Feuerwehr stand in der Grube, neben ihm die HC 4000, die ein paar Minuten vorher entschärft worden war. Die Bombe, wegen der am ersten Weihnachtsfeiertag mehr als 54 000 Augsburger ihre Häuser verlassen mussten. Nachdem die drei Zünder entfernt waren, nahm alles seinen Lauf. Der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg wurde abtransportiert, nach Thüringen. Wohin genau, hat Bechtel vergessen. 1,8 Tonnen Sprengstoff mussten die Kampfmittelbeseitiger herausholen. Was mit der leeren, rostigen Stahlhülle passieren sollte? Friedhelm Bechtel hatte keine Ahnung. Nur, dass sie nach Augsburg zurückkehren sollte, das war für ihn klar.
Ein Jahr später steht Bechtel in der Hauptfeuerwache und deutet in einen verglasten Innenhof. Dort hat die HC 4000 ihre letzte Ruhestätte gefunden. Bechtel selbst ist mit einem viel zu großen Transporter nach Thüringen gefahren und hat sie abgeholt. Ein Stück Metall, mannshoch zwar, aber völlig ungefährlich. Ohne Zünder und Sprengstoff. Bechtel hat nicht locker gelassen, mit der Stadt und mit dem bayerischen Innenministerium verhandelt. Statt in irgendeinem Museum, weit weg von Augsburg, liegt die Bombe jetzt hier, neben einem dekorativen Steinbrunnen, den man in der nüchternen Feuerwache auch nicht unbedingt vermuten würde.
Heute kommt Bechtel der Name leicht über die Lippen, den die Augsburger dem Blindgänger verpasst haben: Weihnachtsbombe. Das klingt irgendwie positiv. Weihnachtsgeschenk, Weihnachtsgans und Weihnachtsbombe – das waren die Feiertage 2016 in Augsburg.
Viele sind im Laufe des Jahres vorbeigekommen, um sich anzusehen, was genau da ihr Weihnachtsfest gestört hat. Auch Schulklassen sind darunter, einmal sogar eine Gruppe aus München. Ältere Besucher seien oft sehr betroffen von dem Gedanken, jahrzehntelang neben der Bombe gelebt zu haben, sagt Bechtel. „Ein Mann hat geweint, eine Frau wollte die Eisenhülle unbedingt anfassen.“
Mehr als 72 Jahre lag die Luftmine am Rand der Augsburger Innenstadt. Die Betonfläche darüber nutzten Mitarbeiter des damaligen Waschanlagenherstellers Kleindienst lange als Parkplatz. Auch der Augsburger Hans Grimminger hat 20 Jahre dort sein Auto geparkt, ohne zu ahnen, was direkt darunter schlummerte. Das ist schon deswegen besonders, weil Grimminger eigentlich alles über die Sprengkörper weiß, die in der Bombennacht auf den 26. Februar 1944 von Briten und Amerikanern über Augsburg abgeworfen wurden. Sein Keller ist ein riesiges Archiv, sein Laptop die digitale Zusammenfassung. Der 73-Jährige hat im Augsburger Stadtarchiv, in Washington, Alabama und im englischen Nationalarchiv Dokumente gesammelt, minutiös Einsatzberichte von Flugzeugbesatzungen studiert, die über Augsburg hinwegdonnerten. Reines Freizeitinteresse, sagt der frühere SPD-Stadtrat. Genau 332 Bomben vom Typ HC 4000 sind Grimminger zufolge auf Augsburg gefallen. Auch die, die für die bis dahin größte Evakuierung in der Nachkriegsgeschichte verantwortlich ist, sollte als „Wohnblockknacker“Fenster, Wände und Dächer sprengen, damit die kleineren Brandbomben besser wirken. Doch Weihnachtsbombe schlug seitlich auf und nicht mit den drei Kopfaufschlagzündern nach unten. Sonst hätte es in Augsburg in dieser Nacht wohl noch mehr als rund 800 Opfer gegeben.
Mit roten Linien hat Grimminger auf einer selbstgezeichneten Landkarte den Weg der Bombe dokumentiert. Der Hobby-Historiker mit Schnauzer und grauem Haar hebt den Kopf ein bisschen, um besser durch die Lesebrille sehen zu können. Die Bombe muss mit einer Lancaster gekommen sein, vermutlich gestartet in der Grafschaft Lincolnshire oder Yorkshire. Ein Kriegsflugzeug mit sieben Mann Besatzung. „Diese Maschinen hatten besonders große Bombenklappen und waren groß genug, um Sprit für den langen Flug mit so einer schweren Fracht zu transportieren.“
Die Alliierten fliegen in dieser Nacht nicht direkt auf Augsburg zu. Erst ein Schlenker über den Bodensee und Schongau, das ist unauffälliger. Dann über Augsburg, den Domplatz als Orientierungspunkt. Ein Soldat ist zuständig für den Abwurf der Bombe. Den ganzen Flug über lag er direkt unter dem Platz des Piloten. Über der Innenstadt öffnet er die Bombenklappe, die HC 4000 rast Richtung Boden, gefolgt von mehreren leichteren Brandbomben. Wann genau sie aufschlägt, kann keiner mehr sagen. „Viele Feu- tippen mehrere Lancaster-Besatzungen jedenfalls nach dem Angriff in ihre Dokumentationsbögen. Die Uhrzeiten liegen allesamt um Mitternacht.
Nicht alle Flugzeuge kehren nach den Angriffen auf Bayerns Städte zurück zu ihren Stützpunkten. Hans Grimminger hat dutzende Abstürze dokumentiert, teilweise sogar Fotos aufgetrieben. Manche der Soldaten haben überlebt. Archivare in England und den USA verwiesen sie auf ihn, wenn sie Klarheit über ihren Absturz wollten. Da war zum Beispiel Philipp, der Brite. „Er ist bei Leeder im Kreis Landsberg abgestürzt“, erzählt Grimminger. Der Hobby-Historiker hat ihm die Absturzstelle gezeigt. Regelmäßig kam Philipp ihn danach besuchen. Wenn die Familie dabei war, haben Grimminger und seine Frau im Wohnwagen übernachtet, erzählt er. Und dann sagt er etwas, was erst ein bisschen verwunderlich klingt: „Durch meine Beschäftigung mit dem Krieg habe ich Freundschaften geknüpft.“
Martin Radons dürfte wissen, was Grimminger damit meint. Der Sprengmeister aus Illertissen (Kreis Neu-Ulm) hat die Weihnachtsbombe zusammen mit zwei Kollegen entschärft. Der 40-Jährige denkt zurück an den Schreck, den er bekam, als zunächst von 15000 betroffenen Menschen die Rede war, dann aber dreieinhalb Mal so viele daraus wurdie den. „Mir war klar, dass ich nach der Entschärfung entweder 54000 neue Freunde habe oder aber so viele Feinde.“Radons ist es egal, dass Frankfurt im September Augsburg den Rekord der bislang größten Evakuierung in der Nachkriegsgeschichte abgenommen hat, wo ebenfalls eine HC 4000 gefunden wurde und 60000 Bürger ihre Wohnungen verlassen mussten. „Das ist doch traurig. Jeder Mensch, der betroffen ist, ist einer zu viel.“An seiner Einstellung hat sich nichts geändert. „Ich gehe immer sachlich an die Aufgaben heran.“Ob eine Bombe 50 Kilo oder 1,8 Tonnen wiege, sei nicht ausschlaggebend. „Auch 50 Kilo sind genug Sprengstoff, dass es für mich und für Umstehende reicht“, meint er trocken.
Vielleicht fühlte Radons deswegen diese Leere. Es war der Augenblick, in dem er sich in der Autobahnraststätte an der A8 einen Kaffee holte und seine eigene Stimme im Radio hörte. Sie erzählte von der Bombenentschärfung in Augsburg, die glücklich ausgegangen war. Dreieinhalb Stunden hatten er und seine Kollegen gebraucht, um die Bombe unschädlich zu machen. Davor diese aufwühlenden Tage, die Vorbereitung auf die Entschärfung. Nun stand er in der Raststätte Augsburg-Ost und hörte sich selbst. „Da kam ich mir kurzzeitig allein vor“, sagt er und versucht, das aufkeimener“ de Gefühl der Einsamkeit zu erklären. „Was war das für eine wahnsinnige, nervenaufreibende Geschichte. Dann ist alles geschafft, es gibt Händeschütteln und alle sind weg.“
Tatsächlich aber ist Radons einiges geblieben. Allein die Erinnerung an einen Ausnahmezustand, den er so wohl nie wieder erleben wird. Und sein ganz persönlicher Bezug zu Augsburg. Der Sprengmeister hat durch die Weihnachtsbombe seine heutige Lebensgefährtin lieben gelernt. Das erste Mal traf er sie schon bei einem Einsatz im Sommer zuvor. Im benachbarten Gersthofen (Kreis Augsburg) hatte ein zwölfjähriger Junge im Lech eine Granate entdeckt. Daheim legte er den gefährlichen Sprengkörper seiner Mutter auf den Küchentisch. Das war die erste Begegnung zwischen Radons und der Gersthoferin.
Danach hatten beide immer mal Kontakt. Als in Augsburg die riesige Bombe gefunden wurde, meldete sich die Frau wieder. Sie sorgte sich um ihn. „Es wurde eine feste Beziehung daraus“, sagt Radons. Mehr will er über seine Liebe nicht verraten. Nur noch so viel, dass er mit seiner neuen Partnerin dieses Jahr zusammen Weihnachten feiert. Und der 40-Jährige hat einen guten Freund gefunden: Friedhelm Bechtel, den Feuerwehr-Sprecher. Beide arbeiteten in den anstrengenden Tagen vom Fund über die Evakuierung bis zur Entschärfung eng zusammen. Beide waren sich auf Anhieb sympathisch und schätzten den professionellen, aber herzlichen Umgang miteinander. Das habe die Extremsituation angenehmer gemacht, finden die Männer, die sich seitdem regelmäßig austauschen. Radons hielt bei der Berufsfeuerwehr auch schon privat einen Vortrag über Kampfmittelbeseitigung. „Mein Lebensmittelpunkt rückt immer mehr nach Augsburg.“
Nie vergessen wird der Sprengmeister die Reaktionen der Bürger. „Manche Menschen brachen in Tränen aus, als ich mich ihnen zu erkennen gab. Jung und alt.“Radons erzählt von einer Situation in einem Augsburger Supermarkt. Eine Mutter zeigte auf ihn und sagte zu ihrer kleinen Tochter: „Das ist der Mann, der die Bombe entschärft hat.“
Weihnachtsbombe, in diesem Begriff schwingt so vieles mit: Krieg und Gefahr, Fest des Friedens, Fest der Liebe. „Vielleicht lag es ja auch ein bisschen an Weihnachten, dass die Leute so gut zusammengeholfen haben“, mutmaßt Bechtel. Auch er war am Tag der Evakuierung von den Augsburgern überrascht. „Sonst schimpfen die Leute zum Beispiel oft, wenn wir beim Einsatz eine Straße versperren, hegen Aggressionen gegen uns.“Vor einem Jahr war das anders. Kaum jemand weigerte sich, am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags seine Wohnung zu räumen. Über die eigens eingerichtete Facebook-Seite „Willkommen im Warmen“boten Menschen Unterschlupf und ein Weihnachtsessen an. 4000 Freiwillige aus ganz Bayern wollten in den Notunterkünften helfen – so viele, dass man manche heimschicken musste. Andere sagten Familientreffen ab und setzten sich zu alten und kranken Menschen aus Pflegeheimen, die für einen Tag aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen werden mussten.
„Augsburg ist zusammengewachsen“, sagt Bechtel. Im Nachhinein klingt das alles furchbar pathetisch. Aber es sind genau diese Geschichten, die sich die Menschen erzählen. Dann, wenn sie zur Augsburger Feuerwache kommen und sich ansehen, was für ein rostiges altes Rohr die Bombe heute ist.
„Durch meine Beschäftigung mit dem Krieg habe ich Freundschaften geknüpft.“Hans Grimminger