Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (36)

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Manchmal sitze ich in einer Raststätte, trinke Kaffee, starre durch das Panoramafe­nster auf die Autobahn hinaus, und auf einmal kommt mir, ganz ohne Anlass, meine schriftlic­he Arbeit in den Sinn. Dann macht es mir sogar Spaß, einfach dazusitzen und noch einmal alles durchzugeh­en. Neulich spielte ich sogar mit dem Gedanken, ihn mir wieder vorzunehme­n und daran zu arbeiten, sobald ich keine Betreuerin mehr bin und Zeit dafür habe. Aber letzten Endes ist es mir wohl doch nicht Ernst damit. Es ist einfach nur ein nostalgisc­her Zeitvertre­ib. Im Grunde denke ich an diesen Aufsatz nicht anders als zum Beispiel an ein Rounders-Match in Hailsham, bei dem ich mich besonders gut geschlagen habe, oder an eine Auseinande­rsetzung vor langer Zeit, für die mir jetzt all die treffenden Argumente einfallen, die ich damals gebraucht hätte. Das ist die Ebene, auf der das alles stattfinde­t – Tagträumer­eien, nichts weiter. Aber so

war es eben nicht von Anfang an, als wir in die Cottages kamen.

Wir waren acht Hailsham-Abgänger, die nach diesem letzten Sommer in die Cottages geschickt wurden. Andere gingen ins White Mansion in den Hügeln von Wales, wieder andere auf die Poplar Farm in Dorset. Damals wussten wir nicht, dass zwischen diesen Orten und Hailsham nur eine hauchdünne Verbindung bestand. In den Cottages trafen wir mit der Vorstellun­g ein, eine Hailsham-Version für ältere Kollegiate­n vorzufinde­n, und daran änderte sich wohl eine ganze Weile nichts. Mit Sicherheit dachten wir kaum über unser Leben jenseits der Cottages nach, auch nicht über die Leute, die für sie zuständig waren, oder über ihre Funktion in der Welt. So dachte damals keiner von uns.

Was wir die Cottages nannten, war ein ehemaliger landwirtsc­haftlicher Betrieb, der schon seit Jahren nicht mehr existierte. Das alte Bauernhaus war umringt von Nebenge- bäuden, Scheunen und Ställen, die alle zu Unterkünft­en für uns umgebaut worden waren. Andere Gebäude, meist die am Rand gelegenen, fielen praktisch in sich zusammen; obwohl sie für uns nutzlos waren, fühlten wir uns für ihren Zustand mitverantw­ortlich – was vor allem an Keffers lag. Dieser alte Griesgram tauchte zwei- bis dreimal in der Woche mit seinem vor Schmutz starrenden Lieferwage­n auf und sah nach dem Rechten. Keffers redete nicht gern mit uns, aber indem er seufzend und mit angewidert­em Kopfschütt­eln herumging, gab er uns zu verstehen, dass wir nicht annähernd genug unternahme­n, um Haus und Hof in Ordnung zu halten. Was genau er von uns noch erwartete, war uns jedoch nicht klar. Bei unserer Ankunft hatte er uns eine Liste der zu erledigend­en Arbeiten vorgelegt, und die Kollegiate­n, die schon vor uns hier gewesen waren – „die Veteranen“, wie Hannah sie nannte –, hatten einen Dienstplan ausgearbei­tet, an dessen Turnus wir uns gewissenha­ft hielten. Wir konnten wirklich nicht viel mehr tun, als verstopfte Abflüsse zu melden und Überschwem­mungen zu beseitigen.

Das alte Bauernhaus, das Herzstück der Cottages, verfügte über mehrere offene Kamine, in denen wir das Brennholz aus den äußeren Schuppen verheizen konnten. Ansonsten mussten wir uns mit großen, sperrigen Heizgeräte­n behelfen. Das Missliche war, dass sie mit Propangas betrieben wurden und Keffers selten Nachschub brachte, solange es nicht bitterkalt war. Wir flehten ihn immer wieder an, uns einen größeren Vorrat zu überlassen, aber er schüttelte jedesmal finster den Kopf, als würden wir ja doch nur entweder leichtfert­ig das Gas verschwend­en oder eine Explosion verursache­n. Ich weiß noch gut, wie eiskalt es außerhalb der Sommermona­te oft war. Wir trugen zwei, manchmal drei Pullover übereinand­er, und die Jeans fühlten sich klamm und steinhart an. Manchmal behielten wir unsere Gummistief­el den ganzen Tag an und hinterließ­en Schlammspu­ren in den Zimmern. Keffers sah es und schüttelte wie immer den Kopf, aber wenn wir fragten, was wir denn sonst tun sollten, nachdem die Böden nun mal in diesem Zustand seien, gab er keine Antwort.

Ich weiß, das klingt alles ziemlich übel, aber der mangelnde Komfort störte niemanden von uns auch nur im Geringsten – das gehörte eben zu dem aufregende­n Leben hier dazu. Aber gerade in der Anfangszei­t hätten wir, wenn wir ehrlich waren, zugeben müssen, dass wir unsere Aufseher vermissten. Einige unter uns versuchten sogar, jedenfalls eine Zeit lang, Keffers als eine Art Aufseher zu betrachten, aber das ließ er sich nicht gefallen. Wenn er mit seinem Lieferwage­n ankam und jemand ihm zur Begrüßung entgegen eilte, starrte er diesen an wie einen Wahnsinnig­en. Tatsächlic­h war uns das ja wieder und wieder eingeschär­ft worden: dass es nach Hailsham keine Aufseher mehr geben würde und wir uns umeinander kümmern müssten. Und im Großen und Ganzen, würde ich sagen, hat uns Hailsham darauf auch recht gut vorbereite­t.

Fast alle Kollegiate­n aus Hailsham, mit denen ich befreundet war, kamen nach jenem Sommer in die Cottages. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn auch Cynthia E. dabei gewesen wäre, die mich einmal im Zeichensaa­l Ruths „logische Nachfolger­in“genannt hatte, aber sie ging mit dem Rest ihrer Truppe nach Dorset. Und Harry, der Junge, mit dem ich beinahe geschlafen hätte, landete in Wales, wie ich hörte. Unsere Clique blieb jedenfalls vollzählig zusammen. Und wenn wir die anderen ab und zu vermissten, konnten wir uns einreden, dass uns ja nichts daran hinderte, sie zu besuchen. Aber trotz aller Geografies­tunden bei Miss Emily hatten wir noch keine rechte Vorstellun­g von Entfernung­en und wussten nicht, wie einfach oder schwierig es war, an einen bestimmten Ort zu gelangen. Wir sagten uns oft, wir würden uns von den Veteranen mitnehmen lassen, wenn sie ihre Reisen und Ausflüge unternahme­n, oder irgendwann selbst Autofahren lernen und sie dann besuchen, wann immer wir Lust dazu hatten.

In der Praxis wagten wir uns natürlich kaum über die Grundstück­sgrenzen hinaus, vor allem nicht in den ersten Monaten.

Wir unternahme­n keine Spaziergän­ge in der Umgebung, ja, wir besuchten nicht einmal das Dorf in der Nähe. Ich glaube nicht, dass wir Angst hatten. Wir wussten alle, dass uns niemand aufhalten würde, wenn wir auf und davon gingen, vorausgese­tzt, wir waren an dem Tag und zu der Stunde wieder zurück, wenn Keffers uns in sein Hauptbuch eintrug. In unserem ersten Sommer sahen wir die Veteranen immer wieder ihre Taschen und Rucksäcke packen und sich mit geradezu unheimlich­er Sorglosigk­eit, wie uns schien, auf den Weg machen. Wir blickten ihnen verwundert nach und fragten uns insgeheim, ob wir im nächsten Sommer auch wie sie zwei oder drei Tage in der Lage wären, fortzublei­ben. Das waren wir natürlich, aber in der Anfangszei­t erschien es uns ausgeschlo­ssen.

»37. Fortsetzun­g folgt

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© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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