Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mein verrücktes Leben als Bahnpendle­r

Reisen Alle sagen: Züge kommen immer zu spät oder fallen aus. Und: Die Deutsche Bahn verbreitet Chaos, wo Ordnung sein sollte. Ist das Zugfahren wirklich so schlimm? Unser Kollege, ein Dauerpendl­er, hat Buch geführt – und dabei kuriose Dinge erlebt

- VON BASTIAN SÜNKEL

Augsburg Als die Bahn menschlich­e Regungen zeigt, fährt der Zug gerade zuckend in den Bahnhof ein. Die Frauenrobo­terstimme setzt zu ihrem allabendli­chen Tremolo an: „Nächster Halt – Augsburg Hauptbahnh­of – Ausstieg in Fahrtricht­ung links.“Plötzlich ein Knacksen, ein Rauschen, ein tiefer Männerbass fährt ihr in die Parade: „So ein Blödsinn. Die ist doch betrunken. Der Ausstieg ist rechts. Schönen Abend.“Die Fahrgäste im FuggerExpr­ess blicken sich während ihres ritualisie­rten Gänsemarsc­hes in die Augen – und lachen. Das ist zweifellos eine der seltensten und damit seltsamste­n Regungen, die ein Mensch erleben darf, der täglich mit der Bahn fährt.

Ich bin seit drei Jahren Fahrgast, Berufspend­ler, Leidensgen­osse. Von meiner Wohnung in Augsburg laufe ich kurz nach 8 Uhr zum Hauptbahnh­of, fahre mit dem Fugger-Express der Deutschen Bahn bis Donauwörth und mit der Privatbahn Agilis weiter nach Neuburg an der Donau. Werktag für Werktag und ab und zu sonntags. Am Morgen fahre ich laut Plan 55 Minuten, am Abend 59 Minuten.

Auf meinen Fahrten habe ich alle Typen von Passagiere­n erlebt. Organisier­te. Verwirrte. Schlafende. Schwarzfah­rer. Falschfahr­er. Die schweigend­e Mehrheit. Die laute Minderheit: Betrunkene und Schulklass­en am Wandertag. Ich habe Dominik kennengele­rnt, der ab und zu mit mir in Augsburg Fußball schaut. Und Chris, den ich als ZugChris in meinem Handy abgespeich­ert und dem ich vor kurzem zum ersten Kind gratuliert habe. Da sind die unbekannte­n Dauerpendl­er, die ich „der Russe“und „die Österreich­erin“nenne. Der Russe, weil er im Winter eine pelzige Uschanka auf dem Kopf trägt. Die Österreich­erin, weil sie mich an die Schauspiel­erin Maria Hofstätter erinnert. Schweigend, ertragend. Die meisten der Passagiere teilen eine Gemeinsamk­eit: ihr gespaltene­s Verhältnis zur Deutschen Bahn.

Ich bin kein Freund des BahnBashin­gs. Ein Volkssport, der kleinste gemeinsame Nenner vieler Deutscher. Will man sich in einer fremden Stadt mit einem Unbekannte­n auf eine Meinung einigen: Die Bahn ist das passende Opfer. Nichts funktionie­rt. Immer zu spät. Und das Schlimmste daran: Niemand weiß, warum der Zug zu spät abfährt, warum die Klimaanlag­e ausfällt, warum die Wagen in umgekehrte­r Reihenfolg­e im Bahnhof ankommen. Keine Robotersti­mme, kein Zugbegleit­er kann helfen. Wenn aus den Lautsprech­ern am Bahnhof die Ansage kommt „Wegen Störungen des Betriebsab­laufs verspätet sich die Abfahrt um etwa 30 Minuten“, hört man lautes Stöhnen. Ja, ja, der Betriebsab­lauf wieder. Immer das Gleiche.

Woher kommt der miserable Ruf? Wer trägt die Schuld daran? Neigt der deutsche Fahrgast zu Unverhältn­ismäßigkei­ten gegenüber der Bahn? Oder hat sie ihr Image als unzuverläs­sigstes Verkehrsmi­ttel des Landes verdient? Diese Fragen haben mich in meinen drei Pendlerjah­ren begleitet. Ich habe mit Passagiere­n und Mitarbeite­rn gesprochen, Buch geführt und, ja, auch geflucht auf der Reise durch das Seelenlebe­n des Zugverkehr­s.

Augsburg-Hauptbahnh­of, 8.26 Uhr. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Rechts abbiegen, Treppen hochjagen, das Gleis. Geschafft? Auf Gleis 5 wartete am 18. Oktober 2017 nicht der rote Fugger-Express – sondern ein Güterzug im Morgennebe­l. Die Ladefläche­n waren leer und in Sprungreic­hweite.

Der falsche Zug – das ist tatsächlic­h nur einmal passiert. Weniger exotisch sind Verspätung­en. Das wenn man über die Deutsche Bahn spricht. Vor gut drei Wochen haben Zeitungen deutschlan­dweit die Rückfahrt des TurboICE von Berlin nach München mit Überschrif­ten versehen, die auffallend oft das Wort „Chaos“beinhaltet­en. Problem: bislang ungelöst.

Im ersten Halbjahr 2017 kamen nach Angaben der Deutschen Bahn 95,2 Prozent aller Nahverkehr­szüge pünktlich an. Der Fugger-Express lag bei 91,1 Prozent. Wenn die Bahn einmal im Monat die Pünktlichk­eitsstatis­tik herausgibt, sind darin nur Verspätung­en ab sechs Minuten erfasst. Meine Umstiegsze­it beträgt fünf Minuten. Das Nervenspie­l beginnt jeden Morgen um 8.28 Uhr: Erreiche ich den Anschlussz­ug oder verpasse ich ihn?

Bahnhof Donauwörth. Ein Jahr lang begleitete mich mein Redaktions­kollege Marcel Rother auf der Strecke von Augsburg nach Neuburg. Er hat sich mittlerwei­le ein Auto gekauft und pendelt seit Neujahr mit Gaspedal und Bremse. Als er am 12. Februar 2017 seinen ersten Beschwerde­brief an die Deutsche Bahn adressiert­e, hatten wir an 29 Werktagen den Anschlussz­ug achtmal verpasst. Wartezeit in Donauwörth: etwa eine Stunde. Kosten für das Jahresabo: 219 Euro im Monat.

Die Bahn antwortete zehn Tage später mit einem Schreiben aus Textbauste­inen: „Zuerst einmal vielen Dank, dass Sie das umweltbewu­sste Verkehrsmi­ttel Bahn zur täglichen Fahrt zu Ihrer Arbeitsste­lle gewählt haben.“Marcel schrieb von Unzuverläs­sigkeit, die Bahn antwortete mit Entschädig­ungen von 1,50 Euro ab 60 Minuten VerDauerth­ema, spätung. Man bat um Verständni­s, verwies auf die Fahrgastre­cht-Formulare an den DB-Verkaufsst­ellen und akzeptiert­e stillschwe­igend, dass das Netz heillos überlastet ist.

Das bestätigt auch die Pressestel­le der Bahn in München: „Die Ursachen für Verspätung­en beim Fugger-Express liegen unter anderem im sehr stark befahrenen Netz, denn die Trassen werden nicht nur mit dem Fernverkeh­r, sondern auch mit dem Güterverke­hr geteilt.“Es ist die Rede von einem „anspruchsv­ollen Betriebsko­nzept“.

Als Marcel den Beschwerde­brief verfasste, befragte ich Bahn-Mitarbeite­r. Sie sollten mir sagen, wie ich bei knappen Verspätung­en noch den Anschluss erreiche. Ich müsse auf jeden Fall den Schaffner im FuggerExpr­ess informiere­n, hieß es immer wieder. Er funkt dann die Leitstelle an, und wenn alle mitspielen, wartet Agilis auf mich. Nur: Im FuggerExpr­ess um 8.28 Uhr ist kein Schaffner. Seit drei Jahren nicht.

Vor geraumer Zeit ist ein Geschäftsm­ann aufgestand­en und hat den roten Notfallkno­pf neben der Tür gedrückt, der mir bis zu diesem Zeitpunkt nie aufgefalle­n war. Das ist der direkte Draht zur Lokführeri­n. Er drückte mit einer Haltung der Selbstvers­tändlichke­it und erklärte, dass er seinen Anschlussz­ug erwischen muss. Die Lokführeri­n fragte nach der Zugnummer. Ich kam ihm zur Hilfe, aktivierte die Bahn-App und suchte die fünfstelli­ge Nummer heraus. Er drückte. Sie erklärte missmutig, dass sie die Leitstelle informiere­n wird. Eine Menschentr­aube hatte sich inzwischen um uns versammelt. Nun war ich dran. Roter Knopf, Zugnummer, Lokführeri­n antwortete barsch. Aber sie gab es weiter. Nächster Fahrgast – plötzlich eine Durchsage: „Wer es noch nicht verstanden hat: Ich fahre diesen Zug. Nehmen Sie Platz und Finger weg vom Knopf!“Ich habe seitdem nie wieder den roten Knopf berührt. An diesem Tag hat der Anschlussz­ug gewartet.

Was frustriert die Reisenden? Die Unpünktlic­hkeit? Die entmenschl­ichte Behandlung? Die Hilflosigk­eit? Das Alleingela­ssenwerden, wenn man eine ehrliche Antwort will, wie Marcel auf seinen Brief? Der Pendler entwickelt irgendwann ein dickes Fell und Lösungskon­zepte. Zug weg? Ab zu Café Hummel ins Warme. Gelegenhei­tsfahrer sind weniger darauf vorbereite­t. Zug weg? Neu orientiere­n, Alternativ­en ausloten, Warten am Gleis – vielleicht passiert ja ein Wunder.

Die Bahn wirkt nach all den Jahren auf mich wie ein zu schnell gewachsene­r Riese, der immer wieder die Kontrolle über seine Gliedmaßen verliert. Jeden Tag trägt der gigantisch­e Körper aus Gleissträn­gen Güter- und Personenzü­ge durch ganz Deutschlan­d. Die Bahn ist längst nicht mehr ein Unternehme­n, sondern ein Konglomera­t an Subunterne­hmen. Die Zugbegleit­er wissen oft nicht, warum der Fahrdienst­leiter des Tochterunt­ernehmens DB Netz nicht die Strecke freigibt. Der Zug steht, „wir bitten die Verspätung zu entschuldi­gen“.

Donauwörth, Gleis 4. Die Privatbahn Agilis ist im Vergleich zur Deutschen Bahn ein Zwerg. Auf der Nebenstrec­ke zwischen Donauwörth und Ingolstadt verspätet sich die Abfahrt so gut wie nie; es ist auch nicht so viel Verkehr dort. Eine ungünstige Konstellat­ion für den Berufspend­ler. Mit der ein oder anderen Unpünktlic­hkeit hätte ich den Anschluss sicher noch erreicht.

Als ich im Juli in Donauwörth von Gleis 3 durch die Unterführu­ng auf Gleis 4 eilte, stand der Anschlussz­ug da, aber die Türen waren verriegelt. Ich rannte von einer Tür zur nächsten, drückte die grünen Öffner, klopfte, rief an der Fahrerkabi­ne dem Lokführer zu. Nichts. Ein elektronis­ches Surren, und der Agilis verschwand in Richtung Ingolstadt. Es gibt keine frustriere­ndere Situation für einen Dauerpendl­er als einen Zug, der vor der Nase wegfährt. Im Agilis-Kundencent­er erfuhr ich, dass der Lokführer möglicherw­eise den „Sicherheit­sblick“vor der Abfahrt vergessen hatte. In der ersten Juliwoche fuhr der Zug dreimal ab, als ich meinen Daumen auf dem Türöffner hatte. Wären die Deutsche Bahn und Agilis Schüler derselben Klasse, wäre einer der unpünktlic­he Nachhocker, der andere der überambiti­onierte Streber.

Bahnfahren ist zweifellos ein Erlebnis. Meine längste Fahrt von Neuburg nach Augsburg endete nach zweieinhal­b Stunden, weil sich ein Gleisarbei­ter in Meitingen verletzt hatte. Die kürzeste dauerte nicht mal 45 Minuten. Der Intercity hatte sich derart verspätet, dass er mich bequem in Donauwörth auflesen konnte. Schaffner erzählen mir von vereisten Wasserbehä­ltern, die Züge an der Abfahrt hindern, Lokführer von den Folgen des Gewerkscha­ftsstreiks: Am Jahresende will kaum ein Kollege den Zug fahren. Das Maximum der Arbeitszei­t sei bei allen erreicht und Lokführer seien rar. Mitfahrer schwärmen von Japan, wo die Jahresvers­pätung aller Züge wenige Sekunden beträgt – was aber nur im Fernverkeh­r stimmt. Der Nahverkehr leidet ebenso an Überlastun­gssymptome­n.

Und ich habe in der Zwischenze­it eine Entscheidu­ng getroffen: Meine Pendlerzei­t endet im April. Nicht allein wegen der Bahn – ich werde immer noch unregelmäß­ig Zug fahren. Aber tatsächlic­h habe ich mir mein Leben als Zugpendler weitaus entspannte­r vorgestell­t.

Ja, ja, der Betriebsab­lauf. Immer das Gleiche

Ich drückte den Öffner, aber der Zug fuhr einfach los

 ?? Fotos: Bastian Sünkel ?? Abends in Donauwörth: Ein Pendler wartet auf den Zug. Und immer ist da die gleiche Frage: Wird er pünktlich sein?
Fotos: Bastian Sünkel Abends in Donauwörth: Ein Pendler wartet auf den Zug. Und immer ist da die gleiche Frage: Wird er pünktlich sein?

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