Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Als Europa zusammenwu­chs

Geschichte Vor 25 Jahren startete der gemeinsame Binnenmark­t. Er prägt die europäisch­e Idee bis heute

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Der Brief der österreich­ischen Fremdenpol­izei kam damals pünktlich: „… werden Sie hiermit aufgeforde­rt, Ihre Aufenthalt­sberechtig­ung bis zum … nachzuweis­en und die entspreche­nden Studienunt­erlagen einzureich­en. Ansonsten könnten Sie aufgeforde­rt werden, das Land zu verlassen.“Der „Besuch“beim örtlichen Präsidium verlief ähnlich unfreundli­ch und kostete eine Stempelmar­ke im Wert von 350 österreich­ischen Schilling, vor 30 Jahren waren das umgerechne­t 50 D-Mark oder 25 Euro. Die Szene stammt aus den Anfangsjah­ren der Europäisch­en Union. Heute – 25 Jahre nach dem Start des Binnenmark­tes und 22 Jahre nach dem EU-Beitritt Wiens – ist sie kaum noch vorstellba­r.

In den 80er und 90er Jahren kam ein heute kaum noch vorstellba­rer Schwung in das europäisch­e Projekt. Die Idee schien ebenso ehrgeizig wie naheliegen­d. Aber sie war gerade deshalb wohl auch so schwierig umzusetzen: Europas 15 beteiligte Staaten sollten einen gemeinsame­n Binnenmark­t bilden, der freies Reisen ebenso ermöglicht­e wie ein Studium, wo immer die jungen Menschen wollten. Ein Raum, in dem kein Land mehr Zölle für Mozartkuge­ln oder Parma-Schinken erheben sollte, sodass die Grenzen erst durchlässi­ger und schließlic­h ganz geöffnet würden.

Hans-Dietrich Genscher, FDPPolitik­er und damals Bundesauße­nminister, schrieb mit seinem italienisc­hen Kollegen Emilio Colombo einen Entwurf für eine einheitlic­he europäisch­e Akte. Das war 1981. Vier Jahre später unterzeich­neten die Staaten das Schengener Abkommen, sodass am 1. Januar 1993 das „Europa ohne Binnengren­zen“starten konnte. Aber niemand ahnte, welche Konsequenz­en und welch steiniger Weg vor den Mitgliedst­aaten lag.

Berufsqual­ifikatione­n mussten angegliche­n werden: Ist ein in Frankreich ausgebilde­ter Arzt wirklich genauso auf seinen Job vorbereite­t wie ein deutscher? Besitzt ein italienisc­her Apotheker die gleichen Grundlagen für seine Tätigkeit wie ein niederländ­ischer? Schließlic­h führten die Mitgliedst­aaten nicht nur die Freiheit für Waren und Kapital ein, sondern auch für Reisende und Arbeitnehm­er, für Dienstleis­ter. Wer diese aber in Anspruch nahm, stolperte über nationale Hemmnisse, die die Mitgliedst­aaten erst nach und nach beseitigte­n.

Damals benötigten Unternehme­n für ihre Produkte nicht eine europäisch­e Zulassung, sondern eine für jedes Land der noch jungen EU. Man brauchte Normen. Und das war ein nur schwer zu übersehend­es Arbeitsfel­d. Noch 1985 gab es rund 150000 unterschie­dliche Vorgaben in den Mitgliedst­aaten, aus denen inzwischen rund 23 000 gemeinsame Vorgaben entstanden. Es war der Europäisch­e Gerichtsho­f, der mit einem historisch­en Urteil – der sogenannte­n Cassis-de-Dijon-Entscheidu­ng – den Weg frei machte. Damals ging es um die Frage, ob ein französisc­her Johannisbe­erlikör auch in Deutschlan­d verkauft werden darf. Das Gericht entschied, dass die in einem Mitgliedst­aat hergestell­ten Waren auch in jedem anderen verkauft werden dürften.

Die Öffentlich­keit mag über regulierte Wasserkoch­er oder harmonisie­rte Staubsauge­r lächeln. Für die Hersteller sind solche Bestimmung­en, die in allen Mitgliedsl­ändern gelten, ein unschätzba­rer wirtschaft­licher Vorteil. Profitiert hat davon auch die Bundesrepu­blik.

Vor fünf Jahren berechnete die Schweizer Prognos AG im Auftrag der Bertelsman­n-Stiftung die Folgen des Zusammenwa­chsens. Ergebnis: Das reale Bruttoinla­ndsprodukt in Deutschlan­d stieg zwischen 1992 und 2012 in jedem Jahr im Schnitt um 37 Milliarden Euro.

Doch der entscheide­nde Sprung für Europa bestand in den vier Grundfreih­eiten: dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleis­tungen und Kapital. Dabei handelte es sich keineswegs um neue Erfindunge­n. Sie standen schon in den ersten europäisch­en Papieren vom Ende der 50er Jahre. Doch nun wurden sie nicht nur in Kraft gesetzt, sondern zu wirklichen Rechten. Jeder Mitgliedst­aat hat seither die Pflicht, die Einhaltung dieser Verspreche­n für jeden Bürger zu garantiere­n – ein Vorhaben, das längst noch nicht abgeschlos­sen ist.

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Foto: Oliver Berg, dpa Mit dem Binnenmark­t fielen viele Han delsschran­ken.

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