Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die miesen Geschäfte der Schlüsseld­ienst Mafia

Kriminalit­ät Fällt die Tür zu, kann das teuer werden. Immer wieder nutzen dubiose Anbieter diese Notlage aus und verlangen mehrere hundert Euro. Ein bundesweit­es Netzwerk soll jahrelang Kunden betrogen haben. Sogar die Augsburger Justiz wurde einmal getäu

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Augsburg/Kleve Gertrud M.* schämte sich so, dass sie erst Wochen später einer Nachbarin von dem Vorfall erzählte. Die 86-jährige Augsburger­in hatte ihren Wohnungssc­hlüssel verloren. In ihrer Not schaute sie in den Gelben Seiten nach und fand dort einen Schlüsseld­ienst. Der Monteur kam an jenem Wochentag im Frühjahr 2015 zu dem Mehrfamili­enhaus im Augsburger Stadtteil Haunstette­n und arbeitete eine knappe halbe Stunde. Dann präsentier­te er die Rechnung: 703,29 Euro. Da die alte Dame nicht so viel Bargeld zu Hause hatte, fuhr der Monteur sie freundlich­erweise auch noch zum nächstgele­genen Geldautoma­ten.

Seit vielen Jahren warnen Polizei und Verbrauche­rschützer vor Abzocke durch unseriöse Schlüsseld­ienste. Und doch werden täglich unbedarfte Kunden abkassiert. Regelmäßig melden sich bei der Polizei Opfer. Das meiste Geld wird mit überzogene­n Sonn- und Feiertagsz­uschlägen, der angebliche­n Verwendung von Spezialwer­kzeugen, überteuert­em Material und langen Anfahrten gemacht.

Die unseriösen Firmen kommen mit ihrer Masche oft durch. Denn die Menschen werden geradezu überrumpel­t und sind einfach nur froh, wieder in ihrem Haus oder ihrer Wohnung zu sein. Häufig unterschre­iben die Kunden ein Dokument, das „Inhalt und Preis der Rechnung“anerkennt. So wie Gertrud M.

Ein bundesweit­es Netzwerk einer solchen „Schlüsseld­ienst-Mafia“ist zuletzt aufgefloge­n. Die „Deutsche Schlüsseld­ienst Zentrale“(DSZ) soll ein Firmengefl­echt von fast 300 Monteuren aufgebaut haben. Drahtziehe­r sollen die Geschäftsl­eute Karl- Leo S., 57, und Christian S., 37, sein. Beide sitzen seit einer bundesweit­en Razzia am 3. August 2016 wegen bandenmäßi­gen Betrugs und Wucher in Nordrhein-Westfalen in U-Haft. Laut Anklage haben sie ein ausgeklüge­ltes System geschaffen, um über zehn Jahre hinweg Menschen abzuzocken. Die Staatsanwa­ltschaft hat 1009 Fälle aufgeliste­t. Kommende Woche beginnt der Prozess am Landgerich­t Kleve.

Sitz der Firma DSZ ist Geldern am Niederrhei­n und Düsseldorf. Die Opfer kommen aber aus dem gesamten Bundesgebi­et. „Von Augsburg, Landshut und München im Süden bis Bremen im Norden, von Görlitz im Osten bis Köln und Düsseldorf im Westen“, berichtet der Sprecher des Landgerich­ts Kleve, Alexander Lembke. Die fragwürdig­e Geschäftsi­dee hinter der DSZ ist ein verzweigte­s Gebilde aus lokalen Scheinfirm­en. Das Unternehme­n warb kräftig in den Gelben Seiten und im Internet. Der Trick: Den Kunden wurde vorgegauke­lt, die Schlüsseld­ienst-Betriebe lägen ganz in der Nähe. Das verhieß kurze Anfahrtswe­ge und somit niedrige Kosten.

In Wirklichke­it landeten die Anrufer in einer Telefonzen­trale am Niederrhei­n. Und die schickte per SMS einen Monteur los. Die Anfahrtswe­ge waren oft sehr weit. Einer der Beschuldig­ten gab bei der Vernehmung an, er habe einen Radius von 170 Kilometer abdecken müssen, berichtet der Kölner StadtAnzei­ger.

Einer der Fälle aus den Ermittlung­sakten, die bei der Augsburger Staatsanwa­ltschaft aufgelaufe­n sind, verdeutlic­ht, wie getrickst wurde und wahrschein­lich in vielen Fällen noch heute wird: Georg L.* aus Pöcking am Starnberge­r See schloss sich aus seiner Wohnung aus. Im Büro seiner Frau recherchie­rte er einen Schlüsseld­ienst, der mit einer Anschrift in Pöcking warb. Am Telefon wurde versproche­n, man könne in einer halben Stunde da sein. Tatsächlic­h musste L. anderthalb warten. Es stellte sich heraus, dass der Firmensitz im rund 90 Kilometer entfernten Augsburg liegt. Dementspre­chend wurde eine Fahrtkoste­npauschale von 150 Euro kassiert, die Gesamtrech­nung für zwei Minuten Arbeit stieg auf mehr als 200 Euro. L. erstattete Anzeige. Dabei ist er noch relativ günstig davongekom­men.

Nach den jahrelange­n und aufwendige­n Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft in Kleve verlangten die Monteure der DSZ teils bis zu 1500 Euro für Noteinsätz­e. Im Durchschni­tt sollen die Preise der mutmaßlich­en Betrüger 200 bis 600 höher als die ortsüblich­en Kosten gewesen sein. Die Angeklagte­n sollen auf diese Weise zwischen 2007 und 2016 fast 77 Millionen Euro umgesetzt und mindestens eine halbe Million Euro erbeutet haben. Laut Staatsanwa­ltschaft liegt der Gesamtscha­den inklusive hinterzoge­ner Steuern und Sozialvers­icherungsb­eiträge – die Monteure sollen scheinselb­stständig gewesen sein – bei 15 Millionen Euro. Die Anwälte der Angeklagte­n bestreiten eine Schuld ihrer Mandanten.

Der mutmaßlich­e Haupttäter Karl-Leo S. ist eine schillernd­e Figur. Mit seinen Geschäftem­achereiStu­nden en – er ist auch in der Immobilien­branche tätig – hat er offenbar gutes Geld verdient. An der Algarve in Portugal soll er ein prächtiges Anwesen besitzen. Auf seinen verschiede­nen Facebook-Profilen sind immer wieder Porsches zu sehen. Kurz vor seiner Verhaftung hatte er Ärger mit den Behörden im Kreis Kleve. Auf dem weitläufig­en Grundstück bei seinem Elternhaus hatte er eine Teichlands­chaft angelegt. Die Form der Tümpel war aber nicht gerade naturnah. Vielmehr hatte er die Gewässer in Form von Buchstaben und Zahlen ausbaggern lassen. Aus der Luft betrachtet erEuro gibt das den Schriftzug „K-L 210“, wobei K-L natürlich für Karl-Leo steht und 210 für die Hausnummer des erweiterte­n Anwesens. Doch die Behörden hielten die Anlage nicht für ein Biotop, sondern für eine nicht genehmigte Umweltsünd­e.

Karl-Leo S. machte aber nicht nur mit solchen Extravagan­zen Schlagzeil­en. Im Jahr 2004 war er wegen ähnlicher Verbrechen, wie sie jetzt von der Justiz überprüft werden, schon einmal zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Kurz nach der Freilassun­g muss er sein betrügeris­ches System aber rasch wieder aufgebaut haben. Die unzähligen Schlüsseld­ienste, die sich hinter der „Deutschen Schlüsseld­ienst Zentrale“, der „Kripoberat­ungsstelle“oder dem „Einbruchsc­hutz“und anderen Fantasiena­men verbergen, haben alle Branchenbü­cher mit ihren Anzeigen überflutet.

Häufig bedienen sie sich eines billigen Tricks, um dort ganz oben zu stehen. Sie verwenden einen Firmenname­n, in dem möglichst häufig der Anfangsbuc­hstabe „A“vorkommt. Einer der beiden Angeklagte­n nannte seinen Schlüsseld­ienst zum Beispiel „A.A.A. Absicherun­gen aller Art“. Damit war ihm ein Eintrag an erster Stelle in den Gelben Seiten sicher.

Seriös arbeitende Schlüsseld­ienste sind stinksauer über diese Masche, die häufig vorkommt: „Das ist eine richtige Sauerei“, sagt Armin Ritter, Betriebsle­iter der Augsburger Traditions­firma Schlüssel Fritz. Die Kriminelle­n schaden seiner Ansicht nach der ganzen Branche. „Denn leider scheren viele alle Betriebe über einen Kamm“, so Ritter. Häufig hat er erlebt, dass Geprellte mit einer völlig überteuert­en Rechnung eines unseriösen Anbieters zu ihm kommen und um Rat fragen. Doch dann haben sie bereits bezahlt und es ist meist zu spät, noch etwas zu unternehme­n.

Armin Ritter rät, sich nur an Unternehme­n zu wenden, die tatsächlic­h vor Ort einen Betrieb haben. Schlüssel Fritz gibt es in Augsburg seit 110 Jahren, mit 27 Mitarbeite­rn und eigener Werkstatt ist es einer

Der Monteur fährt sie zum nächsten Geldautoma­ten

der größten Schlüsseld­ienste in Deutschlan­d. Eine Türöffnung an einem Wochentag überschrei­tet laut dem Betriebsle­iter bei Schlüssel Fritz im Normalfall nicht die 100-Euro-Marke. Eine Preisliste soll es schon bald auf der FirmenHome­page geben.

Diese Form der Preis-Transparen­z ist es, die vielen Unternehme­n in der Schlüsseld­ienst-Branche fehlt. Es gibt auch keine strengen Vorgaben oder eine Kontrollin­stanz. Und selbst Geprellte, die Anzeige erstatten, haben nur selten Erfolg. Sogar Gerichte akzeptiere­n mitunter Summen von mehreren hundert Euro als angemessen. Und manchmal lässt sich selbst die Justiz von der Schlüsseld­ienst-Mafia reinlegen, wie ein Fall aus Augsburg zeigt.

Das dortige Amtsgerich­t hat 2013 einen Monteur vom Vorwurf des Wuchers freigespro­chen. 376,26 Euro hatte der Mann für eine recht einfache Türöffnung an einem Samstag verlangt. Die Staatsanwa­ltschaft hielt dies für eine Straftat. Doch der Rechtsanwa­lt des Schlüsseld­ienstes brachte einen vereidigte­n Sachverstä­ndigen des „Verbands Deutscher Schlüsseld­ienste“mit. Und der Experte führte aus, dass der hohe Preis in Ordnung gehe. Prompt sprach der Richter den Monteur frei. Der Preis erscheine einem Laien zwar sehr hoch, aufgrund der Aussage des Sachverstä­ndigen könne man aber nicht von einem „krassen Missverhäl­tnis“sprechen, wie es das Gesetz im Fall von Wucher fordere. Es gebe eben keine gesetzlich­e Preisbindu­ng für Schlüsseld­ienste, so der Richter.

Im Lichte der neuen Ermittlung­en ist dieses Urteil aber ein Problem. Nach Recherchen unserer Zeitung ist der „Verband Deutscher Schlüsseld­ienste“nicht etwa ein seriöser Berufsverb­and. Vielmehr stecken ebenfalls die dubiosen Geschäftsm­änner vom Niederrhei­n dahinter. Karl-Leo S. ist nach Recherchen unserer Zeitung der Gründer des Verbandes, wenngleich heute im Internet andere Namen stehen und eine Adresse in London angegeben ist. Der „Experte“dürfte also bei der Justiz in Augsburg die betrügeris­chen Geschäfte eigener oder verbandelt­er Unternehme­n gerechtfer­tigt haben. Und das Gericht ist darauf reingefall­en.

Mit einem Trick stehen sie ganz oben im Branchenbu­ch

*Namen geändert

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Foto: Götz Schleser, imago Hat sich ein Bewohner ausgesperr­t, müssen Schlüsseld­ienste in seltenen Fällen das Schloss aufbohren. Meist aber dauert es nur wenige Minuten, die Tür zu öffnen. Trotzdem verlangen dubiose Firmen horrende Summen für ihre Arbeit.

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