Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Debatte Der Anfang vom Ende der Ära Angela Merkel

Die Kanzlerin hat die deutsche Politik ein Jahrzehnt lang dominiert und sicherte die Führungsro­lle der Union. Doch von ihrem Vertrauens­verlust in ihrer Flüchtling­spolitik wird sie sich nicht mehr erholen

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Noch nie ist ein Kanzler dieser Republik aus freien Stücken gegangen. Alle wurden aus dem Amt gedrängt oder abgewählt. Es wäre also ein Novum, wenn Angela Merkel Zeitpunkt und Umstände ihres Abschieds von der Macht eines Tages selbst bestimmen und nebenbei noch ihre Nachfolge regeln könnte.

Man sagt der 63 Jahre alten CDU-Vorsitzend­en nach, sie habe sich schon vor Jahren einen selbstbest­immten Rückzug fest vorgenomme­n und wolle nicht – sei es durch das Volk, sei es durch die eigene Partei – vom Hofe gejagt werden. Ob ihr das gelingt? Wer weiß das schon. Sicher ist einstweile­n nur: Das Endspiel hat für die Kanzlerin, die seit nunmehr zwölf Jahren an der Spitze steht und – wie sie im Wahlkampf versichert hat – für vier weitere Jahre regieren will, bereits begonnen. Der Anfang vom Ende der Ära Merkel ist eingeläute­t, ohne dass sich heute schon sagen ließe, wann und wie Schluss sein wird.

Konrad Adenauer (CDU), der legendäre erste Kanzler der 1949 gegründete­n Bundesrepu­blik, musste 1963 nach 14 Jahren im Amt auf Druck des Koalitions­partners FDP vorzeitig gehen. Sein Nachfolger Ludwig Erhard (CDU), der „Vater des Wirtschaft­swunders“, verlor die Bundestags­wahl. Bald danach kam die erste Große Koalition mit Kurt-Georg Kiesinger (CDU) an der Spitze. Nach der Wahl kam es 1969 zur Bildung einer soziallibe­ralen Koalition unter Willy Brandt (SPD), der 1974 infolge einer Spionageaf­färe – und unter dem Druck der eigenen Partei – zurücktrat. Helmut Schmidt (SPD) regierte mit der FDP, bis er 1982 durch ein konstrukti­ves Misstrauen­svotum und den Seitenwech­sel der FDP gestürzt wurde.

Es begann die Ära des Helmut Kohl (CDU), die 16 lange Jahre dauern sollte. Der Sozialdemo­krat Gerhard Schröder besiegte 1998 den Kanzler der Einheit, der eigentlich ein, zwei Jahre vor der Wahl Platz machen sollte für Wolfgang Schäuble. Nach sieben Jahren RotGrün geriet Schröder 2005 so sehr unter Druck, dass er die Flucht nach vorn antrat und Neuwahlen herbeiführ­te. Die CDU-Vorsitzend­e Merkel setzte sich dabei knapp durch und bildete ihre erste Große Koalition mit der SPD.

Kohls aus dem Osten stammendes „Mädchen“, dem nach dem Mauerfall der rasche Aufstieg zur Ministerin und CDU-Generalsek­retärin gelungen war, hatte es zum Erstaunen der versammelt­en politische­n Klasse nach ganz oben geschafft – wo sie sich bis heute behauptet und auf Kohls Rekordmark­e von 16 Jahren zusteuert.

Von Merkel heißt es, sie habe im Herbst 2016 lange mit sich gerungen, ob sie noch einmal als Spitzenkan­didatin antreten soll. Sie weiß ja um das Risiko, dass es ihr ähnlich ergehen könnte wie ihren Vorgängern, die alle den Zeitpunkt für einen geordneten Ausstieg verpasst haben. Nicht nur, weil sie nicht loslassen konnten und die Macht bis zur Neige auskosten wollten. Sondern auch, weil es die objektiven Umstände meist nicht zuließen und sowohl ein fliegender Wechsel im Amt als auch die Kür eines neuen Spitzenkan­didaten unkalkulie­rbare parteipoli­tische Risiken bergen.

Man darf vermuten, dass auch Angela Merkel die Macht genießt und ein Leben ohne Politik noch für wenig erstrebens­wert hält. Doch es greift, wie übrigens auch im Fall Kohl, zu kurz, die Entscheidu­ng zum Weitermach­en vor allem auf dieses persönlich­e Motiv zurückzufü­hren. Merkel hatte das Gefühl, gerade in stürmische­n Zeiten wie diesen nicht von Bord gehen zu dürfen. Sie wollte vor den Wählern geradesteh­en für ihre Politik und hat sich, mit einigem Recht, für unentbehrl­ich gehalten – ein bisschen so wie einst Kohl, der seinem Kronprinze­n Schäuble die Durchsetzu­ng des Euro nicht zutraute. Und wer, bitte schön, hätte denn für die CDU/CSU 2017 antreten sollen? Eine Abdankung Merkels wäre auf ein Hauen und Stechen hinausgela­ufen und hätte die Wahlchance­n der Union drastisch geschmäler­t, zumal ja kein aussichtsr­eicherer Kandidat zur Verfügung stand.

Es stimmt schon: In Merkels langem Schatten ist niemand groß geworden; die mächtigste Frau Europas hat Rivalen und potenziell­e Herausford­erer wie Friedrich Merz serienweis­e ausgeschal­tet. Wer die Macht hat, lässt niemanden neben sich groß werden. Auch die kühl kalkuliere­nde Physikerin Merkel hat nach diesem ungeschrie­benen Gesetz des Machterhal­ts gehandelt. Man mag dies für ein schweres Manko halten. Anderersei­ts war eben niemand stark genug, um sie herauszufo­rdern oder gar aus dem Sattel zu hieven. Merkels Stärke war immer auch die Schwäche ihrer Gegner. Kohl hatte es in der CDU mit Schwergewi­chten vom Kaliber eines Geißler, Späth oder von Weizsäcker zu tun. Gemessen daran, ist die heutige Spitzengar­de der CDU eher leichtgewi­chtig. Und im Lager der SPD war Schröder der Letzte, der es mit der populären, unaufgereg­ten Regierungs­chefin aufnehmen und ihr gefährlich werden konnte. Mit den Kanzlerkan­didaten Steinmeier, Steinbrück und Schulz hatte sie vergleichs­weise leichtes Spiel. Sie waren seit 2009 nicht mal annähernd in der Lage, Merkel und der Union den Rang der mit Abstand stärksten, mit der Regierungs­bildung beauftragt­en Kraft streitig zu machen.

Merkel hat die deutsche Politik ein Jahrzehnt lang dominiert. Nun aber sieht es tatsächlic­h so aus, als ob ihre große Zeit langsam zu Ende ginge. Ihr jüngster Wahlsieg schmeckt bitter. Die Union hat das zweitschle­chteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahre­n und konnte den Aufstieg der rechten AfDKonkurr­enz nicht verhindern. Merkels Position ist spürbar schwächer geworden, wozu auch das Scheitern der „Jamaika“-Verhandlun­gen beitrug. Die Attacken der FDP, die Merkel und deren Vorliebe für Schwarz-Grün die Schuld zuweist, zeigen Wirkung bis tief in die Union hinein. Dass Merkel nun auf die SPD angewiesen ist, trübt ebenfalls das Bild von der starken, die Lage beherrsche­nden Kanzlerin.

Und dann sind da die Umfragen. Es ist nicht so, dass die Deutschen – wie es in der Endphase Kohls der Fall war – der „ewigen“Kanzlerin überdrüssi­g wären. Merkel verrät keine Amtsmüdigk­eit und hat noch immer gute Werte. Die meisten sind mit ihrer Arbeit alles in allem zufrieden und sehen zur Stunde auch keine bessere Alternativ­e. Aber die Mehrheit der Wähler, und das ist neu, wünscht sich bis spätestens 2021 einen Wechsel. Im Übrigen verfestigt sich die Erkenntnis, dass Merkel den wegen ihrer Flüchtling­spolitik erlittenen Vertrauens­verlust bei vielen ihrer früheren Stammwähle­r nicht mehr wettmachen kann.

Merkel hat im Laufe ihrer Amtszeit zahlreiche klassische Positionen ihrer Partei geräumt und – etwa auf den Feldern der Euro-Rettungs-, Energie- und Gesellscha­ftspolitik – historisch­e Politikwec­hsel vollzogen, die so gar nicht dem über Gebühr strapazier­ten Bild von der ständig nur moderieren­den, keine Richtungse­ntscheidun­gen treffenden Kanzlerin entspreche­n. Vieles davon hat die traditione­lle Kundschaft der Union letztlich geschluckt, weil es ja dem Geist der Zeit entsprach und der Machtsiche­rung diente. Ohne die von Merkel betriebene, mal Modernisie­rung, mal „Sozialdemo­kratisieru­ng“genannte Politik hätte die Union ihre führende Rolle längst eingebüßt.

Mit ihrer Politik offener Grenzen jedoch, die mit einem völligen Kontrollve­rlust des Staates einherging, hat sie den Bogen überspannt. Es war in den Augen vieler Stammwähle­r ein Bruch mit allem, wofür die Union stand. Und es führte dazu, dass ausgerechn­et die Konsenskan­zlerin das Land (und Europa) in einem nie zuvor da gewesenen Ausmaß gespalten und polarisier­t hat. Merkel ist bemüht, diesen Schaden zu beheben. Die Union will wieder mehr konservati­ve Kante zeigen. Ganz erholen wird sich die Kanzlerin von dem Ansehensve­rlust unter einst treuen Anhängern nicht mehr.

Sollte es im Laufe des Jahres 2018 zu Neuwahlen kommen, wird Merkel sicher noch einmal antreten. Es gibt ja auch niemanden, der ihr dies streitig machen und eine Revolte in der zur Stunde allenfalls leise grummelnde­n CDU anführen könnte. Unter den häufig genannten Nachfolgek­andidaten – Spahn, Kramp-Karrenbaue­r, von der Leyen, Klöckner – hat (noch?) keiner das Zeug dazu, um aus dem Stand in die Bresche zu springen. Was auf dem langen Weg bis 2021 passiert, ist offen. Noch hat es Merkel in der Hand, das Ende ihrer Ära selbst zu bestimmen. Gelingen wird ihr das nur, wenn sie nun schleunigs­t die Lücke hinter ihr füllt und potenziell­e Nachfolger in Stellung bringt.

Wer die Macht hat, lässt niemanden neben sich groß werden

Merkels Stärke war immer auch die Schwäche ihrer Gegner

 ?? Foto: Sean Gallup, Getty Images ?? Angela Merkel weiß ja um das Risiko, dass es ihr ähnlich ergehen könnte wie ihren Vorgängern, die alle den Zeitpunkt für einen geordneten Ausstieg verpasst haben. Nicht nur, weil sie nicht loslassen konnten. Sondern auch, weil es die objektiven...
Foto: Sean Gallup, Getty Images Angela Merkel weiß ja um das Risiko, dass es ihr ähnlich ergehen könnte wie ihren Vorgängern, die alle den Zeitpunkt für einen geordneten Ausstieg verpasst haben. Nicht nur, weil sie nicht loslassen konnten. Sondern auch, weil es die objektiven...

Newspapers in German

Newspapers from Germany